Dammbruch beim assistierten Suizid
„Papageno-Effekt“ anstatt „Werther-Effekt“
Der Wiener Medizinethiker und evangelische Theologe Ulrich Körtner bezeichnete die Veröffentlichung des Glattauer-Interviews in der Wochenzeitung „Falter“ und auf der digitalen Plattform „Newsflix“ zwei Tage vor seinem assistierten Suizid für „hochproblematisch“. Auch wenn Hinweise auf Hilfsangebote für Suizidgefährdete beigefügt seien, „liest es sich wie eine Werbung für den assistierten Suizid“, sagte er der „Kleinen Zeitung“. Fatal sei zudem, dass suggeriert werde, ein Sterben in Würde könne es nur in Form eines Suizids geben. „Kein Wort zu ambulanten und stationären Palliativangeboten. Stattdessen werden mehr Ärzte gefordert, die zur Unterstützung Suizidwilliger bereit sind“, so der emeritierte Professor für Systematische Theologie der Evangelisch-theologischen Fakultät der Uni Wien. Vor den Folgen einer unverantwortlichen Berichterstattung über Suizide warnt auch die Bioethikerin Susanne Kummer. Medien hätten eine zentrale Rolle in der Suizidprävention, unterstrich die Direktorin des Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE). Die gesellschaftliche Akzeptanz des assistierten Suizids erzeuge subtilen Druck, indem suggeriert werde, man könnte den Angehörigen „eine Last ersparen“ oder dem Pflegeheim „Kosten vermeiden“. Die Österreichische Palliativgesellschaft wiederum forderte den Ausbau der Palliativ- und Hospizversorgung in Österreich. Palliative Care begleite schwer kranke Menschen am Lebensende, lindere Schmerzen, Atemnot, Angst und Einsamkeit und unterstütze Angehörige.
636 letale Präparate für den assistierten Suizid seit 2022
Golli Marboe, der in seinem mit Caroline Culen verfassten neuen Buch „Jugend unter Druck. Wie Mental Health gefördert und gestärkt werden kann“ auch auf Suizidalität zu sprechen kommt, kritisierte im APA-Gespräch, dass Glattauers Entscheidung in Medienberichten teils als „einzige Möglichkeit, um würdevoll zu sterben“ dargestellt werde. Damit würden andere Perspektiven, insbesondere jene aus der Palliativmedizin und der Hospizbewegung, weitgehend ausgeblendet. Auch die Ausführlichkeit in der medialen Darstellung des Suizidprozesses sei problematisch, verwies Marboe auf den Werther-Effekt der Nachahmung. Nach der Veröffentlichung von Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ wurde von einer Suizidwelle gesprochen. Der österreichische Presserat empfehle in seinem Ehrenkodex ausdrücklich, stattdessen den sogenannten Papageno-Effekt zu fördern: Zeigen, dass es Hilfe gibt und suizidale Krisen überwunden werden können, könne weiterhelfen, wobei Hilfsangebote im Kontext solcher Berichte zwingend genannt werden müssen. „Papageno“ (aus Mozarts „Zauberflöte“) glaubt, seine geliebte Papagena verloren zu haben – er wird aber von drei Knaben von seinen Selbsttötungsabsichten abgebracht. Die „Mitwirkung an der Selbsttötung“ ist in Österreich seit 2022 unter bestimmten Voraussetzungen legal. Laut Sozialministerium wurden seit Inkrafttreten des Gesetzes (Stand 1. 9. 2025) österreichweit 772 Sterbeverfügungen errichtet und von Apotheken 636 letale (todbringende) Präparate abgegeben. 99 Präparate wurden retourniert.
„An der Seite des Lebens – bis zuletzt“
Diese Haltung, die „hoffentlich auch in Zukunft von einem breiten gesellschaftlichen Konsens befürwortet und getragen wird“, hat der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler hervorgehoben. Wenn das Sterben öffentlich zur Schau gestellt wird, bleibe Betroffenheit nicht aus, doch ebenso wenig die Frage, wo die mediale Grenzüberschreitung beginnt, betonte Glettler, der auch Referatsbischof für Lebensschutz in der Österreichischen Bischofskonferenz ist. Faktum sei, „dass die persönliche Entscheidung eines Prominenten, mit dem Leben Schluss zu machen, in die Öffentlichkeit gestellt wurde“. Doch mit welcher Absicht, fragte Glettler: „Ganz großes Unbehagen hat mich erfasst, weil ich der sympathischen Person gerne gesagt hätte, bitte mach‘ es nicht! Es gibt so viele Menschen, die dich schätzen und noch gerne mit dir zusammen sein würden.“ Nicht ohne Grund gebe es auch einen Welttag der Suizidprävention, der jedes Jahr am 10. September begangen wird, erinnerte Glettler, der auch warnte, die Auslöschung des eigenen Lebens als Tat größtmöglicher Freiheit zu preisen.
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Lesen Sie auch die Meinung der Journalistin Doris Helmberger-Fleckl.