Zwischen Heimat und Heimatlosigkeit
Nationalfeiertag
Wo bin ich wirklich zu Hause? In einer Zeit, in der Heimat oft mit Herkunft, Besitz oder nationaler Identität gleichgesetzt wird, lohnt sich ein Blick auf den Begriff aus christlich-theologischer Perspektive. Die Pastoraltheologin Regina Polak spricht im Interview über die biblischen Wurzeln des Heimatbegriffs, über Heimat als Beziehung zu Gott und über die Rolle der Kirche in einer zunehmend säkularen und diversen Gesellschaft. Wir erfahren: Heimat ist nicht nur ein Ort, sondern ein geistiger Raum – geprägt von Hoffnung, Treue und Gemeinschaft.
Heimat aus christlich-theologischer Sicht
Frau Professor Polak, was bedeutet Heimat aus christlich-theologischer Sicht?
Regina Polak: Im Alten Testament wird Heimat sehr oft mit dem familiären Ursprung oder der Herkunft in Verbindung gebracht. Denken Sie an Abraham, der seine eigene Heimat verlässt, um ins gelobte Land aufzubrechen, wo er mit seiner Sippe eine neue Heimat finden soll. Da sieht man schon, dass der Heimatbegriff aufgelöst wird und eine Beziehungsdimension bekommt – hin zu einer eigentlichen Heimat als Beziehung zu Gott.
Die Heimatlosigkeit ist eigentlich das weitaus häufigere Motiv. Moses führt sein Volk durch die Wüste, aber weder er noch das ganze Volk, das aus Ägypten auszieht, kommen ins gelobte Land. Die Existenzweise des Volkes Israel ist von Heimatlosigkeit geprägt. Nach der Heimkehr aus dem babylonischen Exil wird Heimat verstanden als Rückkehr nach Israel – das hat aber keine nationalistische Bedeutung, sondern ist ein Motiv für die Treue Gottes, seinem Volk Zukunft und einen Ort zum Leben zu schenken.
Der Begriff Heimat ist ganz stark mit Beziehungsvokabeln verbunden: mit Treue, mit Hoffnung, mit Verheißung, mit Sehnsucht. Das unterscheidet sich deutlich von Heimatbegrifflichkeiten nach dem 19. Jahrhundert, wo Heimat vor allem mit nationaler Zugehörigkeit verbunden wird. Die eigentliche Heimat ist bei Gott und in der Gemeinschaft der Gläubigen, die versuchen, eine Lebensform aufzubauen, die beispielhaft für ein gutes, gerechtes Leben steht.
„Christliche Gemeinschaften können über die Familien hinausgehend Räume öffnen, in denen Menschen Hilfe finden.“
Heimat im Neuen Testament
Und im Neuen Testament?
Im Neuen Testament bleibt vieles gleich – Heimat als Gemeinschaft des Gottesvolkes, das miteinander unterwegs ist. Christen verstehen sich als Teil eines Volkes, das nicht durch nationale Grenzen definiert ist, sondern durch die Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Wieder die Beziehungsdimension und die transzendente Dimension: Heimat ist eine Beziehung von Christen zu Gott in und durch Jesus Christus. Deshalb heißt es auch, unsere eigentliche Heimat ist der Himmel. Christen verstehen sich als in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt.
Man kann zusammenfassend sagen, dass sich das christliche Verständnis von Heimat ganz deutlich vom politischen Konzept unterscheidet. Das hat auch damit zu tun, dass das Land Gott gehört und uns geliehen ist zur Gestaltung. Die Vorstellung, ich besitze Land und das gehört mir, ist aus christlich-theologischer Perspektive nicht wirklich möglich. Es ist mir gegeben, es ist mir geschenkt, es ist mir geborgt und es verbindet sich mit Verantwortung.
Kann Kirche Heimat bieten?
Wie kann Kirche heute Heimat bieten, gerade in einer zunehmend säkularen und diversen Gesellschaft?
Angesichts der vielen Krisen und der Pluralisierung von Lebenswelten sind überschaubare Gemeinschaften, in denen Menschen gemeinsam ihr Leben teilen, unverzichtbar. Christliche Gemeinschaften können über die Familien hinausgehend Räume öffnen, in denen Menschen Unterstützung und Hilfe finden.Gleichzeitig gehört zum biblischen Heimatbegriff immer auch die Erfahrung der Heimatlosigkeit. Eine Kirche oder Gemeinschaften, die Heimat geben, sind gleichzeitig immer auch Gemeinschaften, die helfen, mit Erfahrungen der Heimatlosigkeit umzugehen. Sie können Menschen dabei unterstützen, mit dem riesigen Wandel zurechtzukommen, in dem wir uns befinden. Heimat und Heimatlosigkeit – beides sind Grundfigurationen in der Seele und in den Gemeinschaften. Beides ist aus theologischer Perspektive notwendig.
Heimat geben, aber nicht im Sinn einer Bastion oder eines Fluchtortes, wo man sich zurückzieht, um mit der Welt draußen nichts mehr zu tun haben zu müssen. Das wäre eine Verkürzung des biblischen Heimatbegriffes. Heimat als eine Gemeinschaft in Bewegung, die einander stärkt und stützt und die gleichzeitig im Sinn des Evangeliums die Gesellschaft mitgestaltet.
„Heimat ist der Raum, wo ich so, wie ich bin, angenommen, geliebt, geschätzt und verstanden werde.“
Was Heimat für Regina Polak bedeutet
Was bedeutet Heimat für Sie persönlich?
Spirituell ist das für mich am klarsten. Ich habe wirklich, mit allen Höhen und Tiefen, eine sehr innige Verbindung zu Gott und betrachte das als mein zentrales Zuhause. Der Raum des Gebets ist der Raum, wo ich mich uneingeschränkt daheim fühle, weil dort alles Platz hat, was ich mir denke, was ich fühle, was ich an Problemen und Gedanken habe. Heimat ist der Raum, wo ich so, wie ich bin, angenommen, geliebt, geschätzt und verstanden werde. Geographisch würde ich mich als Wienerin bezeichnen. Auch wenn ich ein sehr spiritueller Mensch bin – Spiritualität braucht einen konkreten Ort, an dem sie sich vollzieht. Ich erlebe Wien als meine Heimatstadt. Ich bin eine Wienerin mit böhmischen Urgroßeltern, die zur Jahrhundertwende nach Wien kamen.
Hier kenne ich mich aus, da leben meine wichtigsten Bezugspersonen. Heimat ist für mich auch der Raum, wo die Menschen sind, die für mich im Leben am wichtigsten sind. Biographisch komme ich aus einer schwierigeren Familie und habe mich immer ein bisschen fremd gefühlt. Für mich war als Kind und Jugendliche die Kirche die zentrale Heimat, weil ich dort die Erfahrung gemacht habe: So wie ich bin, ist das okay. Der Großteil der Menschen, die ich dort kennengelernt habe, sind Lebensfreundschaften. Ich bin 58, das sind drei, vier, fünf Jahrzehnte.
Ich tue mir sehr schwer, mich hundertprozentig einer Gruppe zuzuordnen. Das halte ich für ein verengtes Heimatverständnis. Ich schaue, dass ich zu möglichst unterschiedlichen Menschen und Gruppierungen Beziehungen habe und pflege. Meine Heimat sind biographisch immer Beziehungen gewesen. Ich mache es primär an einem Gefühl und weniger an einem Ort fest. Politisch muss ich sagen, da fühle ich mich momentan recht heimatlos. Ich bin wirklich zuerst Christin und je nachdem, wie politische Parteien sich zu bestimmten Fragen äußern, bin ich der einen oder anderen näher.
Rituale für ein Gefühl von Heimat
Gibt es spirituelle Praktiken oder kirchliche Rituale, die Menschen helfen, sich beheimatet zu fühlen?
Rituale erfüllen mindestens zwei Funktionen. Einerseits eröffnen sie durch Stabilität und Wiederholung Raum, in dem ich zur Ruhe kommen kann. Gleichzeitig ermöglichen Rituale aber auch, Übergänge zu gestalten – in Situationen, in denen eine Sprache fehlt oder die schmerzhaft sind. Bei der Hochzeit, beim Begräbnis, bei der Taufe bieten diese Rituale die Möglichkeit, diesen Übergang so zu gestalten, dass einem eine gewisse Grundsicherheit vermittelt wird.
Ich glaube, dass grundsätzlich alle religiösen Rituale ermöglichen, sich zu verorten. Ich bin wirklich ein Fan von der Einübung des Betens, einmal am Tag – oder für Leute, die nicht religiös sind, am Abend den Tag Revue passieren zu lassen: Was war heute los, was war gut, wofür bin ich dankbar, was war schmerzhaft? Dass man ganz bewusst solche Punkte setzt, an die man zurückkehrt. Das kann schon Heimat vermitteln. Der Ort ist nicht das Primäre, sondern die Beziehung zu sich selbst, die Beziehung zu anderen und die Beziehung zu Gott.

Zur Person
Regina Polak ist Professorin für Praktische Theologie und Interreligiösen Dialog an der Universität Wien. Sie forscht unter anderem zu Religion und Migration, sozioreligiösen Transformationsprozessen und Wertefragen.