Wege durch den Bibelwald
Hinführung zum Bibellesen
Wie eine Bibliothek oder gar wie ein Buch mit sieben Siegeln: So wird bisweilen die Bibel bezeichnet. Ungewöhnlich hingegen ist die Bezeichnung und Betrachtung der Bibel als Wald. „Dieses Bild drückt für mich am besten aus, was die Bibel ist: ein Bio-Organismus, der Lebensraum, Erholungsraum, Kraftquelle und Ort für seelische Ertüchtigung sein kann und will, wenn man sich nur auf den Weg macht“, betont Elisabeth Birnbaum, Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks, im Gespräch mit dem SONNTAG.
Der Weg durch den Bibelwald
Warum haben viele Menschen eine Scheu, die Bibel zur Hand zu nehmen? Was sind die Gründe dafür?
ELISABETH BIRNBAUM: Die Bibel ist ein altes Buch, das von längst vergangenen Dingen erzählt. Allerdings von Dingen, die uns sehr viel zu sagen hätten, ja, die sehr relevant sind für uns heute. Das Problem ist vielleicht diese Scheu vor einem so dicken Buch, das sich nicht unbedingt wie ein Roman liest, sondern eher in kleineren Dosen fruchtbar wird. Und das vom Anfang bis zum Schluss gelesen sicher verwirrend sein kann. Da ist eine gewisse Scheu vorhanden, da einmal anzufangen. Ich denke, man braucht ein bisschen eine Wegbegleitung, eine Führung.
Sehen also die Menschen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr?
Das ist durchaus möglich und die Bibel macht es uns auch gar nicht leicht, weil sie in sehr vielen verschiedenen Textsorten, in sehr vielen Gattungen, in sehr vielen unterschiedlichen Begrifflichkeiten erzählt. Und sich dadurch einem Schnellleser nicht unbedingt leicht öffnen kann. Umso wertvoller, umso fruchtbarer ist es, sich ein bisschen in diese Welt hineinzubegeben, sich dort umzusehen und zu schauen, was da alles wächst und gedeiht.
„Für Anfängerinnen und Anfänger gibt es viele Wege, durch die Bibel zu gehen.“
Elisabeth Birnbaum
Bibelwald: Eine kleine Baumkunde
Stichwort „Wald“ und „Wachsen“. Warum braucht es so etwas wie eine kleine Baumkunde?
Wenn ich in einen Wald gehe und dort Pflanzen sehe, die ich noch nie gesehen habe, und die mir sehr fremd vorkommen, dann laufe ich Gefahr, dass ich mit diesen Gewächsen falsch umgehe. Dass ich beispielsweise einen giftigen Pilz esse oder dass ich nicht weiß, dass ich auf ein kakteenartiges Gewächs nicht fest draufgreifen sollte. Das ist bei Textsorten auch so: Es gibt sehr viele unterschiedliche Textsorten, von denen kann man bestimmte Dinge erwarten, und andere Dinge kann man nicht erwarten. Ich verweise hier auf das Beispiel des „Märchens“ als Textsorte. Wenn ich „Es war einmal ...“ lese, dann weiß ich, ich habe ein Märchen vor mir und ich kann erwarten, dass es mir vielleicht eine tiefere Wahrheit sagt. Aber ich kann nicht erwarten, dass ich da mit einem archäologischen Trupp ausrücken und dann das Rotkäppchen ausgraben kann. Auch in der Bibel gibt es Textsorten, die vielleicht auf den ersten Blick so wirken, als wären sie ein faktischer Tatsachenbericht. In Wahrheit sind sie eine prinzipielle Erzählung über tiefere Wahrheiten, die sich nur bedingt an historischen Fakten festhalten können.
Die diversen Routen durch den Bibelwald
Welche Routen durch den „Bibelwald“ empfehlen Sie?
Ich stelle in meinem Buch sehr unterschiedliche Routen vor, denn üblicherweise beginnen die Menschen das Bibellesen am Anfang und versuchen, irgendwann einmal durchzukommen bis zum Schluss: eine Methode, die sich bestenfalls für Fortgeschrittene empfiehlt. Für Anfängerinnen und Anfänger gibt es sehr vielfältige Arten, durch die Bibel zu gehen. Beispielsweise habe ich einen ganz kurzen „Rundweg“, wo man ein kurzes Buch vom Anfang bis zum Schluss liest, aber ich habe genauso einen „Sonntagsspaziergang“, also die Texte der Sonntagslesungen, die ein schönes Gesteck aus dem Bibelwald ergeben oder „Themenwege“ mit den Themen „Liebe“ oder „Leid“. Und genauso findet sich ein „Waldlehrpfad“, wo ich beispielsweise verschiedene Berufungserzählungen oder verschiedene Dankpsalmen abgehe. Und für Ehrgeizige gibt es auch „Weitwanderwege“ und es gibt auch „Wege quer durch das Unterholz“. Da beginnt es sehr spannend zu werden, wenn ich eine neutestamentliche Erzählung wie beispielsweise die Kindheitserzählungen im Matthäusevangelium mit den alttestamentlichen Bezügen lese und dadurch merke, was sich da für ein großes Ganzes entwickelt.
In Ihrem Buch kommen – wie im echten Wald – auch Tiere vor. Welche Aufgabe haben diese Tiere?
Diese Tiere haben keine Aufgabe, sie verdeutlichen, welche Lesetypen es gibt. Es gibt in meinem Buch fünf verschiedene Arten von Leserinnen und Lesern. Die „Spechte“ wollen es ganz genau wissen, die klopfen solange an ein und derselben Stelle, bis sie alles darüber wissen. Das wäre etwa die bibelwissenschaftliche Methode. Es gibt aber auch „Hasen“, die sich gerne einen ganz großen Überblick verschaffen, gerne viele Texte lesen und das Ganze kennenlernen. Es gibt auch die „Maulwürfe“, die Bezüge zwischen biblischen Texten gleichsam ausgraben oder dahin durchgraben möchten. Das „Eichhörnchen“ wiederum geht den Baum entlang und schaut, was aus so einem Baum wird. Also: Was hat die Auslegungsgeschichte aus so einem Baum entstehen lassen? Und dann natürlich auch den „Schmetterling“, den mögen sehr viele. Der „Schmetterling“ pflückt sich gleichsam einen Bibelvers und entschwindet in spirituelle oder sonstige Höhen und hat genug genippt, wenn er einen kleinen Vers gelesen hat.
„Bibellesen hat mit dem Leben, mit Bewegung, mit Veränderung zu tun.“
Elisabeth Birnbaum
Haben Sie ein Lieblingstier?
Ja! Den „Maulwurf“. Weil ich selber sehr gerne diese Bezüge, diese Verflochtenheiten der biblischen Texte untereinander ganz besonders liebe. Weil man da immer wieder etwas Neues zutage fördert und sich richtig hineinwühlen kann.
Welche biblischen Bücher empfehlen Sie als ersten Einstieg – in das Alte und in das Neue Testament?
Ich habe im Buch nur zwei ganz kurze Bücher empfohlen, das Jona-Buch im Alten Testament und den Ersten Thessalonicherbrief im Neuen Testament. Ansonsten zeige ich im „Bibelwald“, dass es oft viel spannender ist, wenn man sich in die Bezüge hineinbegibt und damit auch in eine andere Form des Lesens, wie beispielsweise bei den Sonntagslesungen. Und diese „Wege“ führe ich, damit man sieht, wie man das am besten tun kann.
Warum ist Bibellesen, wie Sie schreiben, „etwas Dynamisches“?
Weil es um Lebensthemen geht. Weil die Bibel ein Buch ist für Leute, die sich bewegen lassen, die zumindest auf der Suche nach Gott sind. Deswegen gefällt mir das Bild von der Bibliothek nicht so gut. Da habe ich den Eindruck: Ich nehme ein Buch heraus, setze mich gemütlich hin und kann da in meinen alten Gewohnheiten sitzenbleiben. In einem „Wald“ aber muss ich mich bewegen. Genauso wie man sich verändert, wie sich die Zeit um einen verändert, so verändern sich auch diese Texte. Je öfter ich mich in diese Welt hineinbegebe, desto intensiver kann ich sie auch wahrnehmen. Bibellesen hat mit dem Leben zu tun, deshalb muss es auch mit Bewegung, mit Veränderung, mit Erleben zu tun haben.
Buchtipp:
Anregend, lehrreich und auch humorvoll sind die „Wege durch den Bibelwald“, die auch so manches Aha-Erlebnis bieten. Mit einem Wort: Diese „Wege“ machen Lust auf die Bibel. Besonders gelungen sind die herrlichen Illustrationen von David Kassl. Ein gutes Weihnachtsgeschenk.
Elisabeth Birnbaum, Wege durch den Bibelwald, Wiener Dom-Verlag, 208 Seiten, ISBN: 978-3-85351-337-8, EUR 33,00