Verletzlichkeit: Unabhängig und aufeinander angewiesen
Medizinethik
Der Mensch der Gegenwart neigt gern dazu, die eigene Verletzlichkeit und Angewiesenheit fast als Mangel und Unvollkommenheit zu sehen, die man zu beheben hat. Dabei wird schnell und leicht übersehen, dass die Verletzlichkeit das ist, was alle Menschen miteinander teilen. Sie ist gleichsam der Rohstoff, der dem Menschen Entwicklung und Entfaltung ermöglicht, sofern Verletzlichkeit als Mahnung zu Behutsamkeit und Rücksichtnahme verstanden wird, erläutert der Medizinethiker Giovanni Maio im Gespräch mit dem SONNTAG. Maio ist seit 2005 Professor für Bioethik und seit 2006 Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Er berät die Deutsche Bischofskonferenz, die deutsche Bundesregierung und die Bundesärztekammer. Als Arzt, Philosoph und Experte für Medizinethik ist er auch in den Medien präsent.
Verletzlichkeit: Warum wir verletzlich bleiben
Auch wenn wir uns gegen fast alles und jedes versichern wollen, bleiben wir verletzlich. Warum?
GIOVANNI MAIO: Vor allen Dingen bleiben wir verletzlich, weil wir alle angewiesen auf andere sind. Wir brauchen das Gefühl, von anderen gesehen zu werden, von anderen verstanden zu werden, von anderen anerkannt zu werden. Dort, wo wir mit Gleichgültigkeit konfrontiert werden oder gar mit Geringschätzung, spüren wir unsere Verletzlichkeit. Es gibt für den Menschen kaum etwas Schlimmeres, als wenn er einen Raum betritt und niemand dreht sich nach ihm um. Wir sind verletzlich, weil wir ohne die Wertschätzung und den Zuspruch der anderen nicht existieren können.
Verletzlichkeit des modernen Menschen
Hängt das damit zusammen, dass wir die Möglichkeit der eigenen Verletzlichkeit möglichst reduzieren wollen?
Der moderne Mensch neigt dazu, sich immun zu machen gegenüber seiner Verletzlichkeit, indem er versucht, sich ganz unabhängig zu machen. Dadurch lehnt der moderne Mensch jede Bedeutung von Angewiesenheit kategorisch ab. Aber das ist eine Illusion. Wir bleiben Menschen, die nur im Bezogensein auf andere zu sich selbst finden können, Menschen, die erst über den anderen erkennen können, wer sie sind. Anzunehmen, wir könnten ganz unabhängig von anderen sein, bedeutet, dass wir uns ganz abschotten und damit nicht etwa unverletzlicher werden, sondern wir werden dann erst recht verletzlich, weil wir uns unserer Wachstumschancen berauben. Eingepanzert verkümmern wir und werden erst recht unglücklich, nämlich durch Einsamkeit und Selbstbewusstseinsverlust. Der Rückzug potenziert Verletzlichkeit, er schützt uns nicht.
„Eingepanzert verkümmern wir und werden erst recht unglücklich.“
Giovanni Maio
Verletzlichkeit in der Corona-Pandemie
Warum haben die Corona-Pandemie und die aktuellen Kriege unseren Glauben an die restlose Planbarkeit des Lebens erschüttert?
Der moderne Mensch glaubte, alles im Griff zu haben. Er lebte in der Kontrollerwartung, in der Erwartung, alles bis ins Detail beherrschen zu können. Corona hat allen den Bruch dieser Kontrollerwartungen vor Augen geführt und die Kriege zeigten auf, dass das überwunden Geglaubte zurückgekehrt ist.
Wie umgehen, mit Verletzlichkeit?
Wie gehen wir mit unserer Verletzlichkeit gut um? Welche Rolle spielt hier die Ethik?
Ethik der Verletzlichkeit heißt für mich, den anderen Menschen in einem bestimmten Licht zu sehen. Eine solche Ethik ist einfach eine Art und Weise, den Menschen zu sehen. Betrachten wir den anderen als seines Glückes Schmied, so neigen wir dazu, ihn auch in der Not sich selbst zu überlassen. Betrachten wir ihn als verletzliches Wesen, so fragen wir, was wir tun können, damit seine Verletzlichkeit nicht in Verletztwerden umschlägt. Erst wenn wir den anderen Menschen als grundlegend verletzliches Wesen betrachten, werden wir eine Welt aufbauen, die von einer Kultur der Sorge durchzogen ist, von einer Kultur der Umsicht, von einer Kultur des behutsamen Umgangs miteinander. Diese Vision hat mich geleitet, als ich das Buch zur Verletzlichkeit des Menschen schrieb.
„Der moderne Mensch glaubte, alles im Griff zu haben.“
Giovanni Maio
Der unabhängige Mensch
Wie geht das mit dem Streben nach Autonomie, also nach vermeintlicher Unabhängigkeit, zusammen?
Autonomie und Verletzlichkeit sind keine Antipoden (Gegenspieler), sondern sie bedingen einander. Zunächst einmal bleibt auch der autonome Mensch ein verletzlicher Mensch, einerseits weil seine Autonomie fragil ist; er kann sie jederzeit verlieren, wenn er zum Beispiel eine Erschütterung erfährt. Zum anderen ist jeder Mensch auf Zuspruch angewiesen, um sich überhaupt zuzutrauen, seine Sache zu verteidigen. Den Menschen als verletzliches Wesen zu betrachten bedeutet, danach zu fragen, was seine Autonomie behindern könnte und zu ergründen, was man tun kann, damit der verletzliche Mensch sich stark genug fühlt, um zu sich zu stehen. Die Verletzlichkeit ist nicht das Gegenteil der Autonomie, sondern sie ist die Schwester der Autonomie. Sie begleitet die Autonomie durchgehend.
Gibt es dann überhaupt den „unabhängigen“ Menschen?
Nein.
Der eigenen Verletzlichkeit bewusst sein
Was zeichnet einen Menschen aus, der um seine Verletzlichkeit weiß?
Er wird vor allen Dingen erkennen, dass auch jeder andere genauso verletzlich ist, und er wird danach streben, im Angesicht einer geteilten Verletzlichkeit einen guten Umgang mit dem anderen zu finden, weil diese geteilte Verletzlichkeit ein Band zwischen den Menschen schmiedet. Wir sind alle verletzlich und sind es uns gegenseitig schuldig, behutsam und sensibel und rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Eine solche Kultur ist heute notwendiger denn je.
Zur Person
Giovanni Maiolehrt Medizinethik in Freiburg im Breisgau.
Termintipp:
Universitätsprofessor Giovanni Maio spricht am 15. Oktober bei den „Theologischen Kursen“ in Wien: Von 16:00 bis 17:30 Uhr zum Thema „Ethische Grenzen der Künstlichen Intelligenz“ und von 18:00 bis 19:30 Uhr zum Thema „Der verletzliche Mensch. Für eine Ethik der Sorge“.