Leo XIV. und die „Christliche Soziallehre“
Kommentar aus dem SONNTAGSBLATT
In seiner ersten Ansprache knüpft er mit dem Friedensgruß, der Einforderung von umfassender sozialer Gerechtigkeit oder dem Bekenntnis zu einer synodalen Kirche an seinen Vorgänger an, wählt aber nicht den Namen Franziskus II., als den ihn manche in der Funktion als „Testamentsvollstrecker“ seines Vorgängers gerne gesehen hätte, sondern Leo XIV.
Was ist heute Not-wendend?
Damit stellt er sich in eine Tradition der katholischen Soziallehre, die Leo XIII. mit der Enzyklika „Rerum Novarum“ 1891 angestoßen hatte. Aber er ist auch nicht Leo XIII., sondern eben Leo XIV. mit seiner Einmaligkeit und seinem in der Erwählung durch Gott gelegenen Ausgriff auf das, was heute für Welt und Kirche Not-wendend und Heil-bringend ist.
Einordnungen ermöglichen Orientierung an dem, was der Person und mit der Person wichtig ist, sie dürfen aber nicht dazu führen, dass sie fest-stellende Qualifizierungen werden, die die Einzigartigkeit des von Gott erwählten Menschen und dessen, was er uns durch ihn sagen will, übersehen lassen.
In den Zuordnungen liegen oft auch Versuche, Bestärkung für seine eigene Position zu finden und so die Dynamik des Einzigartigen auf sich hin zu lenken und damit einzubremsen.
Für mich als Vertreter der christlichen Soziallehre ist die Fortführung der Tradition, die mit der Wahl des Namens Leo angezeigt ist, ermunternd, zugleich aber auch Aufforderung, die von Papst Franziskus anvisierten Perspektiven der allgemeinen Geschwisterlichkeit, des unbedingten Friedensstrebens oder des gemeinsamen Hauses als neue Anführungszeichen, unter denen die Soziallehre steht, zu setzen.
Innerhalb dieser Anführungszeichen gilt es nun aber die in der Systematik gelegenen Orientierungen auszubuchstabieren, auch Festlegungen zu treffen. Diese sind aber so zu gestalten, dass sie als Weg hin zum Not-Wendenden und Heil-Bringenden begangen werden können und nicht Stoppschilder darstellen. Als Kirchenrechtler wird der neue Papst Strukturen einzeichnen in Bezug auf das, was konkret getan werden kann und zu tun ist. Diese sind aber Orientierungen, nicht verschließend, weil abschließend, sondern wegleitend.
Es sind nicht Abgrenzungen, sondern Akzentsetzungen, mit denen der Weg der Kirche auf den ganzen und auf alle Menschen in den heutigen Verhältnissen einer neuen industriellen Revolution ausgerichtet werden kann. Die Zusammenarbeit mit allen Menschen, nicht nur denen, denen wir guten Willen zugestehen, und der Respekt vor den Lösungsversuchen anderer, der sich auch in kritischer Bewertung zum Ausdruck bringt, sind dafür Wegmarken.
Der Papst hat in der kurzen Zeit seit seiner Wahl solche schon gesetzt, in der Bereitschaft, sich in Weggefährtenschaft der Kirche mit den Menschen auf Gott und sein Reich hin zu begeben; einer Haltung, der wir uns mit dem Motto „Leidenschaftlich für den von Gott zum Heil berufenen Menschen“ anschließen sollten, in der Bereitschaft, uns den Herausforderungen der heutigen Zeit und der Zukunft zu stellen.
Zur Person
Leopold Neuhold (geboren 1954) ist ein österreichischer römisch-katholischer Theologe und Ethiker. Er lehrte am Institut für Ethik und Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz, welchem er bis zu seiner Emeritierung im Oktober 2019 als Leiter vorstand.