Der Lieblingsjünger Jesu
Der Jünger, den Jesus liebte
Wird in der Karwoche – beginnend mit dem Evangelium von der Fußwaschung am Abend des Gründonnerstags – und bis hinein in die Osterzeit aus dem Johannesevangelium gelesen, so taucht immer wieder „der Jünger, den Jesus liebte“ auf. Diese Formulierung wird oft und schnell überhört und auch gleich vergessen. Denn der „Lieblingsjünger“ kommt auch in den Predigten in diesen Tagen kaum vor, er ist bis heute ein ungelöstes Rätsel der neutestamentlichen Bibelwissenschaft.
Lieblingsjünger: Der Jünger an der Brust Jesu
Nach der Fußwaschung, die das Johannesevangelium im dreizehnten Kapitel erzählt, kündigt Jesus im Kreise seiner Jünger im Abendmahlsaal seine Auslieferung an (Johannes 13,22 bis 26): „Die Jünger blickten sich ratlos an, weil sie nicht wussten, wen er meinte. Einer von den Jüngern lag an der Seite Jesu; es war der, den Jesus liebte.Simon Petrus nickte ihm zu, er solle fragen, von wem Jesus spreche. Da lehnte sich dieser zurück an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist es? Jesus antwortete: Der ist es, dem ich den Bissen Brot, den ich eintauche, geben werde. Dann tauchte er das Brot ein, nahm es und gab es Judas, dem Sohn des Simon Iskariot.“ Keiner der anwesenden Jünger wusste, wer gemeint war, auch nicht der Lieblingsjünger. Und dieser stellt die in diesem Moment heikle Frage, nachdem Petrus ihn durch sein Nicken dazu angeregt hat. Jesus beantwortet sie allerdings nicht direkt, sondern durch eine sprechende Geste, indem er Judas den Bissen Brot gibt.
Der „andere Jünger“ beim Hohepriester
In der Passionsgeschichte des Johannesevangeliums (sie wird am Karfreitag im Gottesdienst gelesen) verbirgt sich der Lieblingsjünger hinter dem „anderen Jünger“. Die Soldaten, der Hauptmann und die Gerichtsdiener der Juden nahmen Jesus fest, fesselten ihn und führten ihn zuerst zu Hannas; er war der Schwiegervater des Kajaphas, der in jenem Jahr Hohepriester war. Laut dem Johannesevangelium (18,15 bis 16) ermöglicht dieser „andere Jünger“ Petrus den Zutritt in den Hof: „Simon Petrus und ein anderer Jünger folgten Jesus. Dieser Jünger war mit dem Hohepriester bekannt und ging mit Jesus in den Hof des Hohepriesters. Petrus aber blieb draußen am Tor stehen. Da kam der andere Jünger, der Bekannte des Hohepriesters, heraus; er sprach mit der Pförtnerin und führte Petrus hinein.“
„Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter.“
Johannes 19,27
Lieblingsjünger nimmt Jesu Mutter zu sich
Ganz knapp, in wenigen Versen, aber inhaltsschwer berichtet das Johannesevangelium das Geschehen unter dem Kreuz (19,25 bis 27): „Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als Jesus die Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zur Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ Auch der Evangelist kennt die Flucht der Jünger, als Jesus festgenommen worden war, aber er kennt auch eine Ausnahme – den Lieblingsjünger, der unter dem Kreuz steht. Für den Bochumer Neutestamentler Thomas Söding sind die Rollen klar verteilt: „Maria ist die Mutter, der Lieblingsjünger der Sohn. Mutter und Sohn bilden die Keimzelle der Kirche. Damit kommt ein marianischer Zug in die johanneische Ekklesiologie (Lehre von der Kirche).“ Jesus lebt die Fürsorgepflicht des Sohnes für die allein zurückbleibende Mutter, er gibt Maria den Lieblingsjünger als neuen Sohn. Und dieser Lieblingsjünger nimmt Jesu Mutter zu sich.
Der Lieblingsjünger – beim Wettlauf
Laut dem Johannesevangelium (20,2 bis 8) hat Maria von Magdala das leere Grab gefunden, der Stein war weggenommen vom Grab. „Da lief sie schnell zu Simon Petrus und dem anderen Jünger, den Jesus liebte, und sagte zu ihnen: Sie haben den Herrn aus dem Grab weggenommen und wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben. Da gingen Petrus und der andere Jünger hinaus und kamen zum Grab; sie liefen beide zusammen, aber weil der andere Jünger schneller war als Petrus, kam er als Erster ans Grab. Er beugte sich vor und sah die Leinenbinden liegen, ging jedoch nicht hinein. Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war, und ging in das Grab hinein. Er sah die Leinenbinden liegen und das Schweißtuch, das auf dem Haupt Jesu gelegen hatte; es lag aber nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengebunden daneben an einer besonderen Stelle. Da ging auch der andere Jünger, der als Erster an das Grab gekommen war, hinein; er sah und glaubte.“ Der Lieblingsjünger ist zwar schneller bei diesem „Wettlauf“, er sah die Leinenbinden liegen, ging jedoch nicht hinein und lässt Petrus den Vortritt. Typisch für die Zeit der Urkirche: Petrus ist der dominante Apostel, der Sprecher der Zwölf, der Lieblingsjünger wiederum fungiert als eine markante Schlüsselfigur des Johannesevangeliums.
Der Lieblingsjünger beim reichen Fischfang
Im 21. Kapitel des Johannesevangeliums wird von einer Erscheinung Jesu am See von Tiberias erzählt. Petrus und andere Apostel gingen fischen, fingen aber in dieser Nacht nichts. Johannes 21,4 bis 7: „Als es schon Morgen wurde, stand Jesus am Ufer. Doch die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. Jesus sagte zu ihnen: Meine Kinder, habt ihr keinen Fisch zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. Er aber sagte zu ihnen: Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas finden. Sie warfen das Netz aus und konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es. Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr!“ Nach dem Mahl fragte Jesus drei Mal den Simon Petrus, ob dieser ihn liebe. Petrus beteuerte dies auch drei Mal, er gab Jesus zur Antwort: Herr, du weißt alles; du weißt, dass ich dich liebe.
„Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr!“
Johannes, 21,7
Und dann fragt Petrus nach dem Schicksal dieses Lieblingsjüngers (Johannesevangelium 21,20 bis 23): „Petrus wandte sich um und sah den Jünger folgen, den Jesus liebte und der beim Abendmahl an seiner Brust gelegen und ihm gesagt hatte: Herr, wer ist es, der dich ausliefert? Als Petrus diesen sah, sagte er zu Jesus: Herr, was wird denn mit ihm? Jesus sagte zu ihm: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht das dich an? Du folge mir nach! Da verbreitete sich unter den Brüdern die Meinung: Jener Jünger stirbt nicht. Doch Jesus hatte ihm nicht gesagt: Er stirbt nicht, sondern: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht das dich an?“
Ungelöste Rätsel seit fast 2.000 Jahren
In den drei anderen Evangelien – nach Matthäus, nach Markus und nach Lukas – kommt der Lieblingsjünger nicht vor, im Johannesevangelium hingegen sehr wohl und sehr prominent. Schon in der Frühzeit der Kirche beschäftigte der Lieblingsjünger das Denken und Tüfteln der damaligen Theologen, wie der Neutestamentler Thomas Söding erläutert. Lange Zeit meinte man, dass der Evangelist, der das Johannesevangelium verfasst hat, selbst der Lieblingsjünger sei. Und dieser sei auch der aus den neutestamentlichen Apostellisten bekannte Zebedäussohn Johannes. Dann wurde auch noch der Verfasser der „Offenbarung“ ins Spiel gebracht, manchmal auch noch der Verfasser des Zweiten und Dritten Johannesbriefes.
Lieblingsjünger in unmittelbarer Nähe zu Jesus
Auffällig ist, dass im Johannesevangelium über den Lieblingsjünger in unmittelbarer Nähe zu Jesus erzählt wird. Steht der Lieblingsjünger gar hinter dem Johannesevangelium, hat er etwa die Abfassung veranlasst, mit anderen Worten: Hat er es geschrieben oder hat er es schreiben lassen? Der Autor des Johannesevangeliums beruft sich auf den Lieblingsjünger, er kennt ihn. War der spätere Tod (nach dem Martyrium des Petrus Mitte der 60er-Jahre des ersten Jahrhunderts) des Lieblingsjüngers der ausschlaggebende Grund für die Niederschrift des Johannesevangeliums? Manchmal wird auch eine johanneische Schule oder gleich ein Herausgeberkreis angedacht, der viele der johanneisch klingenden Schriften des Neuen Testaments herausgegeben haben könnte. Diese Schule oder dieser Kreis könnte mit dem Evangelisten und dem Lieblingsjünger verbunden gewesen sein. Faktum bleibt: Der Lieblingsjünger als der „andere Jünger“ ergänzt das Jesus-Bild der Evangelien. Und bleibt dabei bis heute ein Rätsel. Über den Lieblingsjünger kann und soll ruhig mehr gepredigt werden.

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