Christen tragen dazu bei, dass Würde möglich wird
Menschenwürde unter Druck
Unantastbar und verletzlich – Menschenwürde zwischen universellem Anspruch und gesellschaftlichen Konfliktlinien in Europa“: So lautet das Thema des 29. Internationalen Kongresses des deutschen Osteuropa-Hilfswerks „Renovabis“ vom 9. bis zum 11. September in Berlin. Gegenüber dem SONNTAG erläutert die langjährige Universitätsprofessorin für Sozialethik an der Universität Wien Ingeborg Gabriel (sie spricht auch in Berlin beim Kongress) den nicht mehr unumstrittenen Begriff der „Menschenwürde“.
Dimensionen der Würde
Welche Dimensionen umfasst die Menschenwürde?
INGEBORG GABRIEL: Meist wird der Begriff heute sozial und rechtlich in dem Sinne gebraucht, dass jeder Mensch die gleiche, unverlierbare, gottgegebene Würde hat, die zu achten ist. Sie liegt demnach auch den Menschenrechten zugrunde. Eine andere Dimension ist, dass wir selbst moralisch handeln sollen, da dies der eigenen Würde entspricht. Etwas antiquiert spricht man auch von Amt und Würden – Hochwürden.
Würde in Frage gestellt
Wer stellt die Menschenwürde heute wann und wie in Frage? Wo sind die Konfliktlinien?
Die Menschenwürde wird heute theoretisch und/oder praktisch in Frage gestellt. Theoretisch, wenn man den Menschen nur mehr als Teil der Evolution und als höheres Tier sieht oder wenn man über den Menschen hinaus den Übermenschen schaffen will. Praktisch wird sie dort in Frage gestellt, wo Menschen faktisch menschenunwürdig behandelt werden. Da ist die Liste lang: Besonders wird die Menschenwürde in Kriegen und durch Kriegsverbrechen verletzt, ebenso durch Hunger, Menschenhandel – etwa Sexkauf – durch ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, durch die Missachtung von Flüchtlingen, von Frauen, durch Fremdenfeindlichkeit und Ähnliches mehr.
In Würde leben
Was braucht es, damit wir in Würde leben können?
Würde hat eine subjektive und eine soziale, eine materielle und eine immaterielle Seite. Mein eigenes Leben für mich selbst und für andere so zu gestalten, dass Würde möglich wird, ist eine kreative Lebensaufgabe.
Würde und Kirche
Was kann und soll unsere Kirche dazu beitragen?
Die Kirche ist theoretisch wie praktisch zentral, um Menschenwürde einzumahnen – überall, wo sie verletzt wird. Christen und Christinnen müssen sich überlegen, in welcher Weise sie zu dem großen Werk Gottes, einer Welt, in der die Menschenwürde geachtet wird, beitragen und auch andere dazu ermutigen können.
Der Mensch als Ebenbild Gottes
Kann man in unserer zunehmend polarisierten und entchristlichten Gesellschaft noch verständlich machen, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist und daher Menschenwürde besitzt?
Unsere Kultur basiert – wie auch andere Kulturen – auf dem Glauben daran, dass der Mensch wertvoll ist, dass er eine Würde hat, die zu achten ist. Dieser Glaube ist unverzichtbar, aber angesichts der Größe des Universums immer kühn. Doch ohne ihn wäre jedes Unrecht gegen Menschen legitim und es wäre gleichgültig, wie wir uns Menschen gegenüber verhalten, anders gesagt: Moral würde keinen Sinn machen. Die starke Begründung aus der christlichen Offenbarung ist, dass die Würde in der Gottesebenbildlichkeit wurzelt.
Herausforderungen für den Schutz der Würde
Wo liegen heute die größten Herausforderungen für den Schutz der Menschenwürde?
Wie gesagt, sie sind theoretisch wie praktisch. Theoretisch, wie die vorherige Frage zeigt, geht es darum, was den Menschen als Menschen ausmacht. Praktisch, wie die Liste der Verstöße zeigt, haben wir alle einen langen Weg zu gehen, um dem Anspruch der Menschenwürde gerecht werden zu können. Jeder und jede sollte sich überlegen, wie er die Last anderer, deren Würde verletzt wird, geringer machen kann. Das ist die Verantwortung, die wir vor Gott und den anderen Menschen haben.
Zur Person:
Universitätsprofessorin Ingeborg Gabriel lehrte Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.