„Trauer ist ein Kind der Liebe“
Kräftige StimmeSeine kräftige Stimme hat Hannes Benedetto Pircher nun schon bald 7.000 Mal erhoben – erinnernd und tröstend in Trauerhallen und auf Friedhöfen. Nun sitzt der gefragte Trauerredner mir in Mamas Café in der Wiener Innenstadt gegenüber: ein großer Mann mit eindringlichem Blick und dunkelblondem Wuschelkopf, gediegen gekleidet in Barbour-Jacke und dunklem Pulli, die klassische Aktentasche neben sich. Seine Gestik ist ausdrucksstark, seine Präsenz intensiv. Der gelernte Schauspieler und ehemalige Jesuit ist einer, der Bescheid wissen muss über den Tod – und der, wie sich herausstellt, vor allem viel über das Leben zu erzählen hat.
Herr Pircher, wie sind Sie zu diesem Beruf gekommen?
Hannes Benedetto Pircher: Das hat sich ergeben – nicht als Berufswahl im klassischen Sinn. Ich war mehrere Jahre Jesuit, habe Philosophie und Schauspiel studiert und habe am Theater gespielt. Der Jesuitenorden hat mich in vielem gefördert, was für den Dienst am Menschen relevant ist. Ich bin zwar nicht mehr Jesuit, aber in der Seelsorge im weitesten Sinne geblieben. Es geht ja darum, Menschen in Ausnahmesituationen auf lebensfördernde Weise zu begleiten. Das ist die innere Bewegung, die mich zum Friedhof geführt hat.
Der äußere Anlass waren Kollegen vom Theater, die mich immer wieder einmal gefragt haben: „Du bist Ex-Jesuit und ein guter Redner – könntest du die Begräbnisfeier für meine Mutter gestalten?“ Auf diese Weise wurden Bestatter auf mich aufmerksam, und so kam es, wie es gekommen ist.
Wie bereiten Sie sich auf eine Trauerrede vor?
Vorbereiten heißt zuhören, zuhören, zuhören. Und zwar genau und unaufdringlich. Jede Abschiedssituation ist existentiell einzigartig. Es gibt völlig unterschiedliche Lebenswelten und Wertewelten. In den Gesprächen mit Angehörigen geht es oft auch darum, einen gemeinsamen Weg zu finden – manchmal haben drei Kinder völlig unterschiedliche Erwartungen. Das ist auch mediatorische Arbeit.
„Die Grundfrage ist nicht ‚Wer war dieser Mensch?‘, sondern ‚Was war er mir oder uns?‘“
Hannes Benedetto Pircher
Und die Menschen öffnen sich Ihnen?
Nicht anders als bei einem Therapeuten. Aufgrund der professionellen Distanz. Gerade weil ich von außen komme, vertrauen mir Menschen Dinge an, die sie nahen Verwandten nie anvertrauen würden. Das Vertrauen, das mir Menschen schenken, ist auch das Einzige, das mich autorisiert, den Mund aufzumachen.
Was ist das Wichtigste in einer Trauerrede?
Die Hauptaufgabe ist die Würdigung des Lebens und der Persönlichkeit eines Menschen. Die Grundfrage ist nicht „Wer war dieser Mensch?“, sondern „Was war er mir oder uns?“ Was war er mir als Sohn, als Kollege, als Freund? Wofür will ich ihm danken? Was habe ich von ihm gelernt?
Das Subjektive hat notwendigerweise einen wichtigen Platz. Es gibt keine objektive Erinnerung. Faktizität ist fehl am Platz. Manchmal sagt mir jemand auch: „Ich sage Ihnen ehrlich: Ich habe unter meinem Vater gelitten. Ich verdanke ihm gar nichts." Okay, aber dann beginnt erst das ehrliche, offene Gespräch.
Trost spenden – wie geht das?
Ich unterscheide zwei Ebenen. Trostreich kann ich für Menschen sein durch die Art und Weise, wie ich als Mensch für sie da bin. Ich höre oft: „Wir danken Ihnen für die schöne Rede, aber vor allem danken wir Ihnen, dass Sie sich im Vorfeld so viel Zeit genommen haben.“ Oder nach einem zehnminütigen Erstkontakt am Telefon: „Jetzt fühle ich mich schon viel besser, ich fürchte mich nicht mehr so vor dem Begräbnis.“ Das ist Trostspendung auf der Ebene des Seins und des Dienstethos.
Auf verbaler Ebene kann ich nur jenen Trost ins Wort bringen, an dem Angehörige sich selber aufrichtig festhalten können. Da muss ich genau hinhören: Wenn Menschen das sinnerfüllte Leben des Verstorbenen als tröstlich empfinden, dann darf ich diesem Gedanken Ausdruck verleihen. Wenn nicht, dann nicht. Dass übrigens vielen Menschen das erfüllte Leben des Verstorbenen Trost ist, spiegelt sich darin wider, dass die meisten Menschen nicht Angst vor dem Tod haben, sondern davor, dass ihr Leben ungelebt, unvollständig bleiben könnte. Es ist immer das ungelebte Leben, das am wenigsten abtreten will.
Hat sich die Trauerkultur verändert?
Die Konstante ist: Trauer ist der Preis, den wir dafür zahlen, dass wir für einen Menschen Liebe empfinden. Trauer ist ein Kind der Liebe. Weshalb ja auch nicht jede Abschiedssituation eine Trauersituation sein muss.
Ein Phänomen, dem ich in den vergangenen Jahren immer wieder begegne, ist, dass Menschen Trauer als Schwäche oder Versagen erleben. Wenn Eltern eines 21-jährig Verstorbenen sagen: „Bitte machen Sie das Begräbnis so, dass wir nicht trauern müssen“, dann stellt sich eine Frage, die unsere Gesellschaft als Ganzes angeht. Das ist absurd. Es ist natürlich furchtbar traurig, dass Eltern ihr Kind gehen lassen müssen.
Ein anderes Phänomen: Mit dem Individualismus geht manchmal eine Einsamkeit einher, wo Menschen sich in ihrer Trauer isolieren. Der Tod eines geliebten Menschen – das ist ein Schicksal, das viele miteinander teilen. Was den Menschen hilft, ist eine Vergesellschaftung des Weinens um ihre Lieben, ein gemeinsames Trauern. Alle sich isolierenden Tendenzen tun nicht gut.
Gibt es in Ihren Reden auch Platz für Lachen?
Natürlich. Vor allem, wenn der Verstorbene ein Mensch mit Humor und Selbstironie war. Manchmal bringe ich im Sinne der Angehörigen eine Anekdote, die ein Blitzlicht auf das Wesen eines Menschen wirft. Weinen und Lachen – das sind urmenschliche Vollzüge und nirgendwo intensiver als am Grabesrand.
Überhaupt sind Begräbnisse Veranstaltungen, wo Menschen auf einem höheren energetischen Niveau vibrieren. Es ist mehr Leben da, nicht weniger. Ich mache auch Hochzeiten, aber Begräbnisse machen mich immer lebendiger als Hochzeitsfeiern.
„Trauer ist der Preis, den wir dafür zahlen, dass wir für einen Menschen Liebe empfinden. Trauer ist ein Kind der Liebe.“
Hannes Benedetto Pircher
Was tröstet Sie persönlich angesichts der Vergänglichkeit?
Die Vergänglichkeit selbst tröstet mich. Das Wissen um meine Endlichkeit ist die Bedingung der Möglichkeit, dass ich mein Leben als sinnvoll erlebe, dass ich Glück erlebe. Nur die Aussicht auf meinen Tod gibt mir Aussicht auf mein eigenes Leben. Nur angesichts meines Todes klopft das gute Leben an. Mein Tod erhellt mein Leben und lässt mich zuallererst eine Kultur der Dankbarkeit in meinem Herzen ausprägen.
Wenn es nie zu spät wäre, wäre jeder Augenblick gleichgültig. Kein Tag hätte einen Eigenwert. Der Gedanke an meine Endlichkeit spielt nicht zuletzt eine äußerst positive Rolle für die Entschiedenheit, mit der ich lebe, und für die Klarheit, in der ich sehe, was wichtig und was unwichtig ist.
Unsere ganze Kultur entspringt dem Wissen um unsere Sterblichkeit. Das ist der Kulturgenerator schlechthin. Ich glaube, der Mensch ist zum Lachen gekommen, weil er weiß, dass er stirbt. Humor und Selbstironie sind menschlich-göttliche Eigenschaften, die nur geboren werden aus dem Wissen, dass ich bald dahin bin.
Gibt es Geschichten vom Friedhof, die Sie besonders berühren?
Solche der Versöhnung. Etwa wenn ein Sohn, der von seinem Vater wegen seiner Homosexualität verstoßen wurde, auf seinen Vater zugeht, weil er sich denkt: „Der Vater wird nicht in Frieden sterben können, weil er mit sich selber nicht im Frieden ist!“ Der Vater, der den Sohn 30 Jahre lang nicht sehen wollte, bricht in Tränen aus: „Jetzt kann ich in Frieden gehen!“ Der verstoßene Sohn hat dem hartherzigen Vater Versöhnung und Frieden ermöglicht! Das ist für mich eine Evangeliumsgeschichte – nicht vom verlorenen Sohn, sondern vom verlorenen Vater. So etwas berührt mich wirklich. Geschichten, wo Evangelium nicht verkündet, sondern an Menschen wahr wird.
Was Menschen sehr oft bereuen im Blick auf ihr Leben: versäumte Versöhnung, versäumtes Leben von Freundschaft, fehlenden Mut, fehlende Ehrlichkeit – vor allem sich selbst gegenüber. Diesen Fragen gehe ich auch in meinem letzten Buch nach.
Buchtipp
In „Sorella Morte“ denkt Hannes B. Pircher mit feinem Humor und philosophischem Tiefgang über das Begräbnis als Lehrstück des Lebens nach. Für ihn sind Beerdigungen Inszenierungen, in denen sich persönliche und kulturelle Identität verdichtet. Die Kapitel tragen sprechende Titel wie „Das falsche Grab“ oder „Wenn Atheisten das Vaterunser wünschen“. Zwischen skurrilen Anekdoten und existentiellen Fragen entfaltet sich ein Text, der Philosophie, Rhetorik und gelebte Spiritualität kunstvoll verbindet.
Hannes B. Pircher, Sorella Morte.
Über den Tod und das gute Leben,
Edition Splitter, 240 Seiten.
ISBN: 978-3-9504404-0-9, EUR 30,00
Das Buch kann hier online bestellt werden.