Erinnern statt Vergessen
HolocaustEs ist ein sonniger Herbsttag, als sich die Gruppe am 22. Oktober zu einer sehr persönlichen Stadtführung trifft. Denn auf dem Programm stehen keine Sehenswürdigkeiten, sondern Orte, die mit der Leidensgeschichte Wiener Jüdinnen und Juden untrennbar verbunden sind.
Unter den Teilnehmenden ist Gary Reiner aus den USA. Während die Gruppe durch Wien spaziert, erzählt er dem SONNTAG die berührenden Geschichten seiner Vorfahren.
Die Fahrt in den Tod
Der erste Stopp führt die Gruppe zum Aspangbahnhof-Mahnmal im Leon-Zelman-Park – jenem Ort, von dem aus zwischen 1939 und 1942 mehr als 47.000 Wiener Jüdinnen und Juden deportiert wurden. Auf der Betonwand prangt die nüchterne Inschrift: „Aspangbahnhof, 47.035 Deportierte, 47 Transporte 1939 und 1941/42, 1.073 Überlebende“.
Für Gary Reiner ist das keine reine Statistik. Es ist ein Teil seiner Familiengeschichte. Seine Großeltern Arthur und Irma Reiner waren unter jenen 45.962 Menschen, die nach dem Einstieg in einen dieser Züge nie wieder lebend gesehen wurden.
„Meine Eltern suchten jahrelang nach Antworten, doch es gab lange keine Spur.“
Gary Reiner
Erst Jahrzehnte später kam die Wahrheit ans Licht: Der Transport nach Minsk wurde wegen Überfüllung in Maly Trostinez gestoppt – einem Ort, der heute kaum bekannt ist, aber zu den grausamsten Vernichtungsstätten des NS-Regimes zählt. Zwischen 1942 und 1944 wurden dort Zehntausende Menschen im Wald erschossen oder in Gaswagen ermordet. Auch Gary Reiners Großeltern fanden dort den Tod.
Steine zum Gedenken
Nach einem Halt beim Kindertransport-Denkmal „Für das Kind“ am Westbahnhof führt die Tour weiter zur Shoah-Namensmauer im Ostarrichipark. Auf rund 160 ovalen Steintafeln sind hier die Namen von mehr als 65.000 österreichischen Opfern des Holocausts eingraviert.
Gary Reiner sucht, bis er die Namen seiner Familienangehörigen findet. Er legt die Hand auf den Stein, fährt über die Buchstaben. Ein Moment der Stille.
Dann legt er einen kleinen Stein an den Sockel der Tafel. Dies ist eine jüdische Tradition. Während Blumen vergänglich sind und verwelken würden, setzt hier der Stein ein anderes Zeichen: „Ich war hier. Der Stein bleibt. Ich werde nicht vergessen.“
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Ein knappes Entkommen
„Während meine Großeltern vom NS-Regime ermordet wurden, hatten meine Eltern Kurt Reiner und Hennie Goldmark das Glück, dem Terror zu entkommen“, beginnt Gary Reiner, die Geschichte seiner Eltern zu erzählen.
Nach der Pogromnacht wurde sein Vater nach Dachau verschleppt – ein Ort der Kälte, des Hungers und der Gewalt. Währenddessen kämpfte seine Mutter in Wien verzweifelt um seine Rettung.
In einem Akt der Hoffnung gegen jede Wahrscheinlichkeit schrieb sie an das Kaufhaus Altman’s in New York – einzig, weil es denselben Namen trug wie ihre Mutter. Weinend auf den Stufen des Wiener Postamts sprach sie eine fremde Frau an, eine amerikanische Touristin, die ihr versprach, den Brief mitzunehmen und Hilfe zu suchen. Und sie hielt Wort: Über den Rabbiner der Spanisch-Portugiesischen Synagoge in New York fand sich ein Sponsor, Simon Scheuer, der ein Visum für das Paar organisierte.
Zu diesem Zeitpunkt bedeutete ein Visum zu besitzen das Überleben, da es am Anfang des Holocausts noch erlaubt war, in andere Länder zu fliehen.
„Diese Begegnung hat das Leben meiner Eltern gerettet. Es war das perfekte Timing.“
Gary Reiner
Durch das Visum war es Kurt Reiner und Hennie Goldmark am 20. Mai 1940 möglich, in Frankreich an Bord eines französischen Passagierschiffs zu gehen, nur Tage bevor die Nazis Frankreich einnahmen. Nach einer sechstägigen Fahrt erreichten sie endlich New York und waren damit in Sicherheit.
„Es war ein knappes Entkommen und das auf mehreren Ebenen. Denn wenige Wochen später wurde jenes Schiff, das meinen Eltern die Flucht ermöglichte, auf der Rückfahrt von einem deutschen U-Boot versenkt. Hätten sie damals nur ein paar Tage länger gezögert, wäre ihre Flucht unmöglich gewesen“, erzählt Gary Reiner.
Vom Feld zum Mond
In den USA angekommen, musste das Paar ganz von vorne beginnen. Zwei Jahre lang arbeiteten sie als Erntehelfer, bis Kurts technische Ausbildung ihm neue Möglichkeiten eröffnete.
Er wurde Ingenieur und wirkte an zahlreichen Projekten mit. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte er als Ingenieur und Verbindungsmann zwischen der US-Luftwaffe und dem Ingenieurteam, das das Mondlandemodul entwickelte – jenes, mit dem Neil Armstrong 1969 den ersten Schritt auf den Mond setzte.
„Was Deutschlands Verlust war, wurde Amerikas Gewinn.“
Gary Reiner
Erzählen und Zuhören
Die Geschichte von Gary Reiners Familie ist nur eine von vielen, die zeigen, wie das Überleben damals für einige wenige möglich war.
Am Ende des Tages versammelte sich die Gruppe zu einer gemeinsamen Jause im Wiener Rathaus. Es war mehr als ein Ausklang. Es war ein Raum für Begegnung, für Austausch, für Erinnerung. Menschen aus aller Welt saßen beisammen, verbunden durch eine gemeinsame Geschichte: Ihre Vorfahren haben damals überlebt.
Doch der Holocaust liegt inzwischen Jahrzehnte zurück. Heute gibt es nicht mehr viele noch lebende Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Deshalb liegt es jetzt an den Nachkommen jener Überlebenden, diese wertvollen Geschichten nicht verstummen zu lassen, sondern weiter zu erzählen, und es liegt an uns, zuzuhören.
Ein Besucher hält abschließend fest:
„Als Kind dachte ich, diese Geschichten klingen zu verrückt, um wahr zu sein. Aber als ich älter wurde, wurde mir klar, dass man es nicht herausgeschafft hat, wenn man keine verrückte Geschichte hatte.“
Buchtipp
Für Gary Reiner ist es eine Herzensangelegenheit, dass der Holocaust nicht in Vergessenheit gerät und weiter darüber gesprochen wird.
Seine Eltern waren zwei der wenigen Überlebenden, die mit vielen Zwischenstopps, fremder Hilfe und Glück dem Holocaust entkamen. Aus den Schriften und Erzählungen seines Vaters sowie eigener Recherche entstand ein Buch, das diese waghalsige Flucht beschreibt.
Kurt Reiner and Gary Reiner
Counting on America. A Holocaust Memoir of Terror, Chutzpah, Romance and Escape.
HappyDays Media
ISBN: 9781628654912
Erhältlich bei Amazon.