Gegen die Armut!
Meinung
Lange war es erwartet worden, das erste Schreiben von Papst Leo XIV. Jetzt liegt es vor. Es handelt sich um eine „Apostolische Exhortation“ – ein literarisches Genus. Der Titel des Mahnschreibens lautet „Dilexi te – ich habe dich geliebt“. Speziell geht es um die „Liebe zu den Armen“. Der Titel spielt auf die letzte Enzyklika von Papst Franziskus „Dilexit nos“ (2024) an, die der Herz-Jesu-Verehrung gewidmet war. Leo greift das unvollendete Erbe seines Vorgängers auf und führt es mit eigenen Akzenten weiter. Armut hat viele Gesichter. Sie kann materielle Not, soziale Ausgrenzung, digitale Stigmatisierung, aber auch Vereinsamung im Alter bedeuten. Statt mit geschlossenen Augen am vielgestaltigen Leid vorbeizugehen, ist es der Kirche aufgetragen, an der Seite der Armen zu stehen und ihre Not zu lindern. Leo XIV. zeigt, dass der Weg der Kirche in den vergangenen 2.000 Jahren ein Weg mit den Armen war. Er lässt den Reichtum der biblischen Überlieferung sprechen und bietet das vielstimmige Zeugnis der Kirchenväter auf. Augustinus, der im Armen ein „Sakrament der Gegenwart Christi“ sieht, wird ebenso genannt wie Chrysostomus, der den „Luxus der Reichen“ anprangert und in der Metropole Konstantinopel soziale Gerechtigkeit predigt.
"Dilexi te": Schreiben gegen die Armut
Was Kritiker des Christentums notorisch unterbelichten: die Kultur der Gastfreundschaft, die Pflege der Kranken, die Sorge um die Armen, der Dienst an den Gefangenen und die Unterweisung der Bedürftigen durch Ordensgemeinschaften. Das wird von Leo angeführt, wie auch das Engagement für Migranten und Deklassierte heute. Die „vorrangige Option für die Armen“ – ein Motiv, das aus der lateinamerikanischen Bischofskonferenz stammt – wird von Leo bejaht. Die kirchliche Soziallehre hat im 19. Jahrhundert die prekäre Situation des Industrieproletariats thematisiert, sie ist im 20. Jahrhundert kontinuierlich fortgeschrieben worden. Im Blick auf die wachsende Schere zwischen Arm und Reich greift Leo die unter Ökonomen als unterkomplex eingestufte Rede von der „Diktatur einer Wirtschaft, die tötet“ (Franziskus) auf. Warum stellt er nicht klar heraus, dass die Marktwirtschaft überhaupt erst die Bedingungen geschaffen hat, das globale Problem der Armut zu lösen, und votiert für eine soziale Marktwirtschaft, wie das Papst Johannes Paul II. in „Centesimus annus“ (1991) getan hat? Bei der Bekämpfung der Armut, das schärft „Dilexi te“ neu ein, sind neben wirtschaftlichen auch politische, soziale und ökologische Gesichtspunkte zu beachten.
Armut: Schrei der Armen
Das Schreiben, das in den Schlusspassagen sehr viel Papst Franziskus zitiert, greift Anliegen der Befreiungstheologie auf, die den „Schrei der Armen“ hörbar machen und Praktiken der Solidarität anstoßen will. Durch die Betonung, dass die Armen Subjekte sind, ist auch eine Nähe zur neuen politischen Theologie gegeben, die das Prinzip der „Subjektwerdung aller vor Gott“ gegen Formen einer systematischen Entwürdigung geltend macht und für eine „Mystik der offenen Augen“ votiert.
Als Kardinal hatte Robert Prevost dem Vize-Präsidenten der USA, JD Vance, klar widersprochen, der die Ausweisung illegaler Einwanderer unter Rückgriff auf das Konzept des Ordo Amoris verteidigt hat. Als Brückenbauer und Papst hat Leo der Versuchung widerstanden, sich als Anti-Trump zu positionieren. Allerdings hat er mit Franziskus betont, dass sich die Antwort auf die Herausforderung der gegenwärtigen Migration „in vier Verben zusammenfassen lässt: aufnehmen, schützen, fördern und integrieren“. Das ist deutlich. Leos Mahnung zur „Liebe zu den Armen“ wird man daher nicht überhören können. In den USA nicht und hierzulande auch nicht.
Zur Person:
Jan-Heiner Tück (58) ist Fachbereichsvorstand für Dogmatik & Dogmengeschichte und stellvertretender Institutsvorstand des Instituts für Systematische Theologie & Ethik. Der Kommentar, gekürzt nach einem Beitrag erschienen in der Tageszeitung „Die Presse“ (9.10.2025).
Der Kommentar drückt seine persönliche Meinung aus!