Das Geheimnis von Stille Nacht

Interview
Ausgabe Nr. 1
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Musikwissenschafter Thomas Hochradner hat mit dem SONNTAG über das wohl berühmteste Weihnachtslied gesprochen: Stille Nacht.

Als Pfarrer Joseph Mohr "Stille Nacht" gedichtet hatte und 1818 den Organisten Franz Xaver Gruber um eine Melodie dazu bat, wussten die beiden noch nicht, wie hohe Wellen das Lied später einmal schlagen würde. Wir haben Musikwissenschafter Thomas Hochradner zu dem besonderen Weihnachtslied interviewt. 

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Die Bedeutung von Weihnachtsliedern

Haben Weihnachtslieder, in Österreich eine besondere Tradition?

Thomas Hochradner: Auf jeden Fall. Die reicht zurück bis mindestens ins 17. Jahrhundert, wo man aus der klösterlichen Musikkultur etliche erste Aufzeichnungen kennt. Und es verdichtet sich ganz gewaltig im 18. Jahrhundert. Wieder natürlich ist es vor allem klösterliche Überlieferung, die erhalten ist. Ein bisschen kommt dann auch in den sogenannten Kirchensängerbüchern dazu. Das sind die Kirchenchöre auf dem Land gewesen. Damit liegt gegen Ende des 18. Jahrhunderts schon ein großes Korpus traditioneller Weihnachtslieder vor. Freilich vor allem in barocker Art abgefasst. Und in den Augen des 19. und noch mehr des 20. Jahrhunderts, ist das erneuerungsbedürftig.

Was bedeutet barocker Art?

Eine schwülstige Art, Texte zu formulieren.

Sammlung von Weihnachtsliedern

Warum hat sich die Sammlung an Weihnachtsliedern im 18. Jahrhundert verdichtet?

Die traditionellen alpenländischen Weihnachtslieder sind sehr häufig mundartlich. Es gibt einen Grundstock an mittelalterlichen kirchlichen Weihnachtsliedern, die dann wirklich die Zeit überdauert haben, die auch heute noch teilweise gesungen werden. Zum Beispiel, „Es ist ein Rosen entsprungen“, dergleichen. Das war ein relativ schmaler Bestand. Ein großer Bestand an weiteren und mundartlich gefärbten barocken Weihnachtsliedern entsteht nach 1600 im Zuge der Gegenreformation. Denn da soll ja das Volk aktiver am Rituellen beteiligt werden. Und gerade das Weihnachtsfest ist ein bisschen so was wie ein Eingangstor für deutschsprachige Texte geworden, indem man eben auch im Offertorium schon auf Landessprachliches zurückgekommen ist.

Warum sind gerade aus dieser Zeit viele Lieder bekannt?

Weil sie aufgezeichnet wurden, eben vor allem in der klösterlichen Überlieferung sind sie enthalten. Und dort hat man alte Bestände nicht so gern entsorgt wie anderswo. Also sie sind sie in den Archiven einfach aufbewahrt worden.

Die Entstehungsgeschichte von "Stille Nacht"

Sie haben mehrere Bücher zu „Stille Nacht, Heilige Nacht“ geschrieben. Was können Sie mir zur Entstehungsgeschichte des Liedes erzählen und über dessen Verbreitung über Salzburg ins Zillertal?

Wissen Sie, dass zwischen Salzburg und dem Zillertal eine Diözesangrenze ist. Es gibt Zillertaler Gemeinden, die noch zur Erzdiözese Salzburg gehören und solche, die zur Diözese Innsbruck gehören, das ist heute noch so. Man erkennt das an den unterschiedlichen Kirchtürmen. Und da spielt vielleicht auch eine gewisse Rolle, dass sich die Zuordnung von Stille Nacht von Salzburg nach Tirol verändert hat. Soweit Komponist Gruber selbst berichtet, war es Orgelbauer Carl Mauracher, der das Weihnachtslied bei ihm kennen gelernt und ins heimische Zillertal mitgenommen hat.

Da gibt es auch diesen Mythos, dass Mohr und Gruber das Lied komponiert haben, weil die Orgel der Kirche kaputt war. Was weiß man historisch genau über die Entstehung des Liedes?

Instrumentenbauer sagen, dass eine Orgel ad hoc nicht so kaputt sein kann, dass sie überhaupt nicht spielbar ist. Von daher dürfte das tatsächlich ein kleines hübsches Märchen sein. Auch wenn die Orgel tatsächlich etwas später, nämlich 1824, soweit ich es in Erinnerung habe, neu gebaut wird. Aber dass die Orgel überhaupt nicht spielbar war, das ist unwahrscheinlich. Und deswegen sind wir auf den Gedanken gekommen, dass das Lied zu einer Krippenandacht gesungen worden ist.

"Stille Nacht" ein Lied gegen den Krieg?

Das Lied ist zu einer Zeit entstanden, also Josef Mohr hat ja auch, Krieg mitbekommen. Er hat am Dienstort Mariapfarr den Abzug der bayerischen Besatzungsgruppen erlebt. Und das soll sich auch im Text niedergeschlagen haben. Stimmt das?

Sagen wir, es ist eine nahezu undurchdringliche Gemengelage, die sich da bald nach 1800 in Salzburg ergibt. Da sind die kriegerischen Bewegungen mit ihren Folgen. Da gibt es dann das Jahr ohne Sommer, nach dem Vulkanausbruch im fernen Indonesien, dessen Aschewolke über Europa treibt. Dann gibt es die politische Umordnung Salzburgs, schließlich 1816 endgültig nach Österreich. Dass die Leute damals wirklich nicht mehr recht ein und aus gewusst haben, wird aus den Zeitumständen schon, glaube ich, recht deutlich. Und man liest dann natürlich immer wieder auch diese Umstände in den Text von Stille Nacht, also das Gedicht von Josef Mohr hinein. Wir sind aber vielleicht mit den Augen der Nachwelt ein bisschen zu sehr geneigt, diese Dinge darin gespiegelt zu sehen. Denn im Grunde genommen ist es die Heilsbotschaft, die Josef Mohr zu Papier bringt, diese dichtet er nach, und zwar ‒ jetzt mit dem Intellekt der Zeit gelesen ‒ auf einem durchaus beachtlichen Niveau.

Würden Sie das Lied eher als Volkslied oder als Kirchenlied bezeichnen?

„Stille Nacht, Heilige Nacht“ hat wirklich von allem etwas. Das macht vielleicht auch den Boden seiner Erfolgsgeschichte aus. Man kann das Lied unter den verschiedensten Aspekten lesen und immer wird man etwas finden und daraus schließen, zu dieser Stilwelt gehört Stille Nacht eigentlich auch mit dazu. Es hat beides und sogar noch mehr.

Die Verbreitung von "Stille Nacht"

Historisch hat man es zuerst eben als Tiroler Lied gesehen. Wie ist man dann darauf geschwungen, dass es aus Salzburg kam?

Ein deutscher Volksmusik-Sammler namens Ludwig Erck, dem ist es gelungen, eine Verbindung zu den Nachfahren von Franz Xaver Gruber zu schaffen und damit den Ursprung endgültig zu klären. Das war ungefähr, ich kann es nicht ganz genau sagen, in den 1870er Jahren. Bis sich das aber im allgemeinen Bewusstsein verankert und verbreitet hat, ist noch einmal viel Zeit vergangen. Im Salzburgischen hat man aber schon früher gewusst, dass Stille Nacht ein Lied des Halleiner Chorregenten und Organisten Franz Xaver Gruber ist.

Stille Nacht hat im Ursprünglichen sechs Strophen, meist werden jetzt nur drei gesungen. Warum?

Weil die anderen, also die dritte bis fünfte, vom Inhalt her doch von der katholischen Einstellung geprägt sind und Stille Nacht in dieser dreistrophigen Fassung über den evangelischen Raum populär geworden ist. Es ist dort zuerst vor allem im karitativen Rahmen gesungen worden und da ist ja dann auch Jesus ausgetauscht worden gegen Christus. Das kommt aus der evangelischen Glaubenstradition heraus. Und da sind diese drei Strophen, die dritte bis fünfte des Mohr’schen Gedichts, sehr schnell schon nicht mehr rezipiert worden.

Katholischer Hintergrund von "Stille Nacht"

Welche Elemente des Liedes weisen auf den katholischen Hintergrund hin?

Das gesamte ‚Paket‘, würde ich sagen, dass eben die Geburt Christi, bis hin zum heilspendenden Heiland, der in dieser Nacht geboren wurde, nacherzählt.

Warum ist da das Jesus das katholischere im Vergleich zum Christus?

Christus bedeutet der Gesalbte. Und damit ist das Heilbringende schon enthalten. Während Josef Mohr, wenn er von Jesus spricht, den Namen des Kindes nennt, also das Kind betont und im Weiteren die Heilsgeschichte erst in den weiteren Strophen ausbreitet.

Wie "Stille Nacht" in der ganzen Welt bekannt wurde

Und Stille Nacht ist über die ganze Welt bekannt geworden. Welche musikalischen Besonderheiten weist das Lied auf?

Stille Nacht ist deswegen eine sehr gelungene Komposition, weil es Gruber gelingt mit bestimmten rhythmischen oder auch melodischen kleinen Teilchen, Partikeln, die immer wieder vorkommen, aber auch in andere Zusammenhänge gestellt werden, eine ausgesprochen geschlossene Darstellung zu schaffen. Und alpenländisch ist das Lied vielleicht dann, wenn man es wirklich zweistimmig singt, denn dann kommt das Austerzelnde der alpenländischen Volksmusik tatsächlich zum Tragen. In der Fassung, in der Stille Nacht über Mitteldeutschland und Norddeutschland bekannt geworden ist, in der einstimmigen Fassung, ist das Alpenländische mehr oder weniger herausgenommen worden. Das hat der Rezeption des Liedes aber natürlich gutgetan. Der Zugang war so für den internationalen Abnehmerkreis dann viel leichter möglich.

Es gibt viele Weihnachtslieder aus dem Westen Österreichs, aber wenige aus dem Osten. Warum ist das so?

Es liegt sich zum Teil auch schlicht und einfach an der Tatsache, dass hierzulande relativ viel Material erhalten ist, was anderswo verloren gegangen ist. Wien ist vielleicht insofern auszunehmen, weil Wien sehr stark von der Amtskirche domestiziert, worden sein dürfte und eine volksmusikalische Überlieferung da sicher nicht so leicht in die religiöse Ausübung eindringen konnte.

Tradition der Krippenspiele

Warum sind Weihnachtslieder wie „Stille Nacht“ bekannt geworden und andere nicht?

Wirklich bekannt geworden sind die Lieder erst im 20. Jahrhundert. Und zwar insbesondere über die sich aufbauende Tradition der Krippenspiele. Es gibt zwar ein paar historische Krippenspiele, das ist schon wahr, aber dass man so in größerer Breite, vor allem in der Geistlichkeit, auch teilweise in der Lehrerschaft, anfängt, mit den Schulkindern Krippenspiele einzustudieren und aufzuführen, das ist etwas, was man so um 1900 als den neuesten Trend beobachten kann. Und diese Initiatoren brauchen Repertoire. Und da gibt es tatsächlich dann eine ganze Menge an Publikationen, die solche Lieder ausgraben und dann in Breite zur Verfügung stellen. Für Salzburg fällt mir da bald nach 1900 der Pfarrer Martin Hölzl ein, wenn auch ganz dezidiert klar wird, wieso er diese Lieder sammelt und braucht, nämlich, weil er gesehen hat, es wird in der christlichen Jugendarbeit benötigt. Und dann erscheint etwas später, in den 1930er Jahren, auch noch der „Schatz österreichischer Weihnachtslieder“, das ist eine ganze Serie, die ein gewisser Karl Magnus Klier zusammenträgt und veröffentlicht, da haben Sie vielleicht schon ein Heft davon in der Hand gehabt, der klappert dann so richtig die archivalischen Bestände ab und bietet eine Unzahl, kann man schon fast sagen, von Weihnachtsliedern in seinen Sammlungen an. Und das kommt ja alles nicht von ungefähr, sondern das kommt deswegen, weil dieses Repertoire damals offensichtlich gesucht wird, um es in der praktischen Musikausübung umzusetzen.

Also hat es doch die Kirche eine große Bedeutung gehabt in der Niederschrift, und Sammlung dieser Weihnachtslieder und nicht, wie man oft hört, das bürgerliche Weihnachtsfest, das Singen unterm Christen?

Im alpenländischen Raum, ja. Was das bürgerliche Weihnachtsfest betrifft, das kommt tatsächlich auch in einem, allerdings schon sehr entschlackten Maß auch in Österreich zum Tragen, als man tatsächlich beginnt, Weihnachtsbäume aufzustellen, Weihnachtslieder dazu zu singen und so. Es gibt einige, aber es sind letztlich vereinzelte Zeichen, dass man sowas bereits im 19. Jahrhundert gemacht hat. Aber die traditionelle alpenländische Weihnacht, also das, was tatsächlich auf dem Land passiert ist, ist von diesen Bräuchen zunächst nicht erfasst worden. Man hat ein bisschen an Weihnachtsliedern in der Kirche gebraucht, man hat wahrscheinlich ein bisschen was zu Hause gesungen, aber zur Andacht, nicht unter dem Weihnachtsbaum, und da waren es dann vor allem Frauenlieder, also die Frau ist Maria, Marienlieder, die man da gesungen hat. Hirtenlieder eventuell noch, aber sicher nicht den Bestand, der heute, sagen wir mal, als überliefertes Weihnachtsliedgut gilt, wie „O Tannenbaum“ „Ihr Kinderlein kommet“, „Süßer die Glocken nie klingen“ und so weiter.

Weihnachtslieder in der Messe

Wie haben Weihnachtslieder in die kirchlichen Messen Einzug gehalten?

Es gibt diesen Grundbestand alter weihnachtlicher Kirchenlieder. Sie sind in den Gesangbüchern lange Zeit schon immer wieder enthalten gewesen. Stille Nacht hat große Mühe, in die Gesangbücher aufgenommen zu werden. Da gibt es seitens der Amtskirche offensichtlich Vorbehalte gegen den Inhalt. Zu süßlich, verniedlichend. Teilweise auch, weil man nur drei Strophen kennt und es deshalb, für zu wenig religiös hält. Aber so langsam tröpfelt es interessanterweise dann doch, meistens in den nur drei Strophen, so nach und nach, vom späten 19. bis ins 20. Jahrhundert, in Gesangbücher hinein.

Und durch was melodisch unterscheiden sich Weihnachtslieder aus Österreich vom deutschen Raum?

Die deutschen Weihnachtslieder folgen eher einem Stufengang, mit wenigen Sprüngen in der Melodie. Und die alpenländischen sind dagegen sprungbetont. Viele Terzen, Sexten, der Tonraum ist damit entsprechend größer.

"Stille Nacht": Ein Dauerbrenner

Wie kann man sich die Beliebtheit von Stille Nacht erklären?

In gewisser Weise hat Stille Nacht einen Glücksfall der Rezeptionsgeschichte erlebt. Dadurch, dass es erst in Leipzig, dann auch in Hamburg popularisiert worden ist, also in zwei Zentren der Verbreitung von Musik, hat es sehr, sehr weite Kreise schon relativ bald nach seiner Entstehung erreicht. Es gibt kein Lied, dass eine vergleichbare Rezeptionsgeschichte aufzuweisen hätte. Zum anderen war Stille Nacht offenbar immer ein Lied, das sich sehr gut anpassen ließ an bestimmte Umstände, sei es durch Streichung von Strophen, sei es durch Textveränderung. Stille Nacht hat sich da als ausgesprochen flexibel erwiesen. Stille Nacht wurde inzwischen in über 300 Sprachen übersetzt, aber teilweise ist das im Zuge der Mission geschehen. Und da sind sicher Fassungen dabei, die aktiv nie wirklich im Volk Fuß gefasst haben. Es ist dann auch bewusst betrieben worden, Stille Nacht in möglichst vielen Sprachen anzubieten, um es als völkerverbindendes Lied zu präsentieren. Und es gilt zu bedenken: Weihnachten ist ein nostalgisches Fest. Und das, was man in der Kindheit zu Weihnachten gehört hat, das bewahrt man, nimmt man ein Leben lang mit. Und das, glaube ich, ist letztlich der entscheidende Faktor, warum Stille Nacht sich immer noch so gut im Repertoire halten kann. Weil es einfach gewohntermaßen zu Weihnachten gehört. So wie die Mettwürstel bei uns und die Weihnachtsgans in Deutschland.

Zur Person:

Ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Hochradner war Mitbegründer und von 2006 bis 2011 erster Leiter des Instituts für Musikalische Rezeptions- und Interpretationsgeschichte, dem er weiterhin angehört, und leitete von 2014 bis 2021 das Department für Musikwissenschaft. Er hält fachspezifische Lehrveranstaltungen und publiziert zur Musikgeschichte des 17. bis 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkten in den Bereichen Musikphilologie, Barockmusik, Kirchenmusik, Rezeptionsgeschichte, Salzburger Musikgeschichte und Volksmusikforschung.

Autor:
  • Cornelia Grotte
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