„Antisemitismus ist eine gesellschaftliche Seuche“
Gedenken an Novemberpogrome
Vor 87 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, wurden die von der Führung der Nationalsozialisten organisierten Terrorakte im damaligen gesamten Deutschen Reich gegen Jüdinnen und Juden durchgeführt, die als „Novemberpogrome“ bezeichnet werden. Damals brannten Synagogen. Die Glasscherben der zerborstenen Fenster gaben dem Geschehen den zynischen Namen „Reichskristallnacht“. Gegenwärtig flammt der Antisemitismus auch in Europa wieder stark auf. Der jüdische Publizist Rafael Seligmann im SONNTAG-Gespräch über diese Gefahren und die gefährliche Gleichgültigkeit der Mehrheit.
Antisemitismus und die palästinensische Terrororganisation Hamas
Wie hängen die sich häufenden antisemitischen Zwischenfälle in Europa mit der Berichterstattung über den Krieg des Staates Israel gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zusammen? Israel wird ja medial beinahe dämonisiert ...
RAFAEL SELIGMANN: Israel wird „medial“ nicht selten dämonisiert, sondern vielfach. Das geschieht nicht zufällig. Journalisten, Reporter, Redakteure sind Menschen wie du und ich. Sie unterliegen den gleichen Einflüssen wie die Gesellschaft. Und da fällt mir eine Selektion der Berichterstattung und der Kommentierung auf. Über den Krieg in Europa, in der Ukraine, wird kaum berichtet und schon gar nicht von „Völkermord“ gesprochen. Der Leser, Zuschauer erfährt nichts davon, dass im Sudan 30 Millionen Menschen hungern, in Mauretanien Millionen. Es gab keine Demonstrationen, als Assad in Syrien 500.000 Menschen umbringen ließ. Ja, in Israels Abwehrkrieg gegen die Hamas, gegen die Hizbollah – da wurde auch kaum über die Angriffe der schiitischen Terrormiliz berichtet – geschehen Verbrechen. Dies ist nicht zu rechtfertigen, doch es geschieht in jedem Krieg. Darüber wird ausführlichst berichtet. Dass dies eine Reaktion auf den Massenmord der Hamas-Terroristen war, wurde mit der Zeit kaum erwähnt. Wenig auch über die festgehaltenen und gar die ermordeten Geiseln. Nicht wenige Berichterstatter sind gegen Israel voreingenommen. Da fließen alter europäischer Antisemitismus und hierzulande neuer islamischer Antisemitismus zusammen, angereichert durch Opportunismus und „Antizionismus“, dessen Endziel die Auslöschung Israels ist.
Anstieg von Antisemitismus in Europa
Judenhass kehrt hierzulande auf die Straßen zurück. Haben die Jüdinnen und Juden Europas wieder Angst?
Ja. Sicher haben Juden wieder Angst – mit Recht. Es hetzen die Regierungen vor allem Spaniens, Frankreichs, Irlands gegen Israel. Der jüdische Staat soll aus Sport, Wissenschaft, ja sogar aus Schlagerwettbewerben ausgeschlossen werden. Propagandistischer und gewalttätiger Antisemitismus bis hin zu Morden nehmen sprunghaft zu. Viele jüdische Studenten, die sich als solche zu erkennen geben oder die man „ermittelt“ hat, können vor Angst nicht mehr die Vorlesungen besuchen. Jüdische Lehrer werden bedroht, jüdische Schüler bedroht und beleidigt.
Solidarität müsste ausnahmslos der Fall sein, wenn man Gottes Gebote, etwa Mitleid, Nächstenliebe, befolgt.
Rafael Seligmann
Wieder entflammten des Antisemitismus
Wie kann dem wieder entflammten Antisemitismus – von links, von rechts, von muslimischer Seite – begegnet werden? Sind Gleichgültigkeit und die Gedankenlosigkeit der Mehrheit gar am gefährlichsten?
Ich teile Ihre Meinung. Gleichgültigkeit, Gedankenlosigkeit sind sehr arg. Am schlimmsten, meine ich, ist die Erbarmungslosigkeit plus die Dummheit des Wegschauens. Sie machen den Antisemitismus erst möglich. Antisemitismus ist keine jüdische Krankheit, er ist eine gesellschaftliche Seuche. Ein Alarmzeichen. Die Gesellschaft muss aufpassen, denn Antisemitismus gefährdet am Ende alle.
Christen gegen Antisemitismus
Treten Christen dem Antisemitismus genügend entgegen und zeigen sie Solidarität mit den jüdischen Gemeinden?
Das ist individuell. Solidarität müsste ausnahmslos der Fall sein, wenn man Gottes Gebote, etwa Mitleid, Nächstenliebe, befolgt. Davon darf es keine Dispens geben – für niemanden. Nächstenliebe muss für alle gelten, sogar für Juden. Mitleid muss genauso für Araber gelten. Aber man hilft keinem Palästinenser, wenn man Juden verfolgt. Da muss auch die Kirche aufpassen. Übrigens: Der erste Christ, seine Apostel und Anhänger waren Juden.
Buchtipp
Mehr Mitgefühl
Rafael Seligmann beschreibt mit seinem Buch nicht tausendundeine Theorie über den Antisemitismus und wie man ihn bekämpft. Er liefert einen Lebensbericht: Was der Judenhass mit ihm gemacht hat und weiterhin tut. Seligmann führt ein Leben im Ausnahmezustand wie die meisten Juden in Europa, ja weltweit außerhalb Israels. Mit seinem Buch will er schlicht zum Mitgefühl animieren.
Rafael Seligmann, Keine Schonzeit für Juden. Die Antwort eines Betroffenen, Herder-Verlag, 192 Seiten,
ISBN: 978-3-451-07409-7, EUR 19,30