Till Eulenspiegel: Schelm des Mittelalters
Gedanken des Alten Steffl – Teil 5
Ehrwürdig, erhaben, strenge Formen … das sind einige der Attribute, die man der Gotik zuspricht. Und in der Tat wirkt diese gesamte Kunstperiode sehr feierlich. Auch bei der Architektur der Stephanskirche ist das so. Und wenn man sich die gotischen Pfeilerfiguren im Inneren anschaut, dann strahlen sie durchaus Strenge und Erhabenheit aus. So stellte man sich im ausgehenden Mittelalter den Himmel vor. Die Heiligen als himmlischer Hofstaat.
Till Eulenspiegel: Trotz Gotik lachen
Freilich gibt es auch Ausnahmen: Im Dom Sankt Peter zu Regensburg gibt es den lachenden Verkündigungsengel, der sich über die Frohe Botschaft, die er Maria überbringt, dermaßen freut, dass er über das ganze Gesicht lacht. Ähnliches begegnet uns in anderen Kathedralen bei der Darstellung der klugen und törichten Jungfrauen. In Wien ist es ein bissl anders.
Höchstens ein Lächeln huscht über das Gesicht mancher Heiliger, man denke nur an das bezaubernde Lächeln der Dienstbotenmuttergottes. Etwas Einmaliges im Wiener Stephansdom ist das Nebeneinander, oder besser gesagt das Miteinander verschiedenster Kunststile; wenn man vor dem mächtigen frühbarocken Hochaltar steht, dann erkennt man den Unterschied zu Romanik oder Gotik sehr deutlich.
Über dem Hochaltarbild mit der Darstellung der Steinigung des heiligen Stephanus ist ein querrechteckiges Bild angebracht, das „Maria als Königin aller Heiligen“ zeigt. Im Unterschied zu den gotischen Darstellungen von Heiligen sind diese hier sehr bewegt. Es scheint, als würden sie sich unterhalten und ein fröhliches Fest feiern, musizierende Engel spielen auf. So stellte man sich im Barock den Himmel vor: alles andere als langweilig. Eben ein himmlisches Hochzeitsmahl!
Till Eulenspiegel hielt die Wiener zum Narren
Übrigens: Irgendwann im Spätmittelalter soll es sich zugetragen haben, dass vor dem Dom ein seltsam gekleideter Mann zum Südturm emporblickte. Nachdem er bereits eine geraume Zeit wie angewurzelt dagestanden hatte, wurden die Leute aufmerksam und es versammelte sich eine große Volksmenge. „Was ist denn vorgefallen?“, fragte man ihn.
Der eigenartige Kerl ließ die Umstehenden noch einige Zeit zappeln; schließlich entgegnete er mit nachdenklicher Miene: „Nein, vorgefallen ist nichts!“ „Was gibt es denn dann zu sehen?“, wollten die Neugierigen wissen. „Ja, hört nur, ich erwäge bei mir, welch ein Glück es ist, dass der Turm nur einen Spitz hat und nicht einen Rausch, denn da könnte er in der Tat umfallen und großes Unheil anrichten!“
So hat Till Eulenspiegel auch die Bürger von Wien einmal zum Narren gehalten.
So grüße ich Sie wie immer mit einem herzlichen „Grüß Gott“ – und es muss ja nicht immer ein lautes Lachen sein, ein Schmunzeln tut’s auch!

Seien Sie gegrüßt! - Teil 5/8
Gedanken aus 23 Jahren, vormals abgedruckt im Pfarrblatt der Dompfarre zu Sankt Stephan.
Können Steine sprechen? Der Alte Steffl kann! In der Serie „Und schaut der Steffl lächelnd auf uns nieder …!“ im Pfarrblatt von Sankt Stephan tut er seit über 20 Jahren seine Meinung kund: einmal augenzwinkernd und verschmitzt, einmal nachdenklich und mit Sorge, jedoch stets respektvoll und mit Herz.
Aus höherer Perspektive und mit seiner jahrhundertelangen Lebenserfahrung kommentiert der Steffl – wie der Südturm des Stephansdoms von den Wienern gerne auch bezeichnet wird – das aktuelle Geschehen auf dem Stephansplatz und in der Welt um ihn herum. Wie die Gedanken des steinernen Zeugen konkret zu Worten werden, enthüllt Domarchivar Reinhard H. Gruber in seinem neuen Buch mit einem „Best-of“ der beliebten Beiträge.
Bereichert werden die Texte durch eindrucksvolle Fotos, die verborgene Details der Domkirche zeigen und ungewohnte Perspektiven eröffnen.

Zum Autor:
Reinhard H. Gruber ist Domarchivar zu Sankt Stephan in Wien.

Buchtipp:
Reinhard H. Gruber, Seien Sie gegrüßt! Gedanken des Alten Steffl, ISBN: 978-3-85351-336-1, 144 Seiten, EUR 30,00 erhältlich ab 23. 7. 2025
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