Nur „ein bisschen Frieden“ im Säbelgerassel?
Friedensethik im nachrüstungszeitalter
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 ist die (militärische) Verteidigung wieder Thema in Europa. Nach Einschätzung der NATO werden 2025 alle Mitgliedsstaaten die Zielvorgabe der Aufwendung von mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung erreichen. „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein“, sagte etwa der deutsche Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im Juni. Welche Rolle die bewaffnete Neutralität in Österreich spielt und wie gerade heute vom Frieden gesprochen werden kann und muss, erklärt Militärbischof Werner Freistetter im Gespräch mit dem SONNTAG.
Freistetter zur Neutralität
Einer der Punkte des österreichischen Neutralitätsverfassungsgesetzes beinhaltet, dass sich Österreich im Ernstfall selbst verteidigen muss. Ist dies bisher nicht „zu österreichisch“ aufgefasst worden?
WERNER FREISTETTER: Österreich ist nach dem Zweiten Weltkrieg nicht als ein Schönwetterstaat entstanden, sondern aus einer Situation der Zerstörung heraus, wie sie im Grunde noch nie dagewesen war. Die Ruinen, die der Krieg hinterlassen hat, die Gebäude, die zerstört worden waren, habe ich als Kind noch gesehen und erlebt. Österreich hat sich in diesen Jahren für eine freiheitliche, demokratische, parlamentarische und pluralistische Demokratie entschieden. Wir nehmen es oft als selbstverständlich, dass wir in einer solchen Ordnung leben, aber es sollte nicht selbstverständlich sein. Gerade jetzt bemerken wir auch, dass diese Ordnung durchaus bedroht ist und infrage gestellt wird. Ich denke, dass das Neutralitätsgesetz eine wirklich wichtige Entscheidung war, das hat Österreich diesen Neustart ermöglicht. Die Neutralität hat auch geholfen, ein Österreichbewusstsein zu entwickeln, das so nach dem Ersten Weltkrieg nicht möglich gewesen ist. Aber die Neutralität fügt sich natürlich immer auch in einen Zeitkontext ein und wir haben jetzt auch durch den Beitritt zur Europäischen Union mit den Verpflichtungen, die wir da übernommen haben, natürlich immer ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Neutralität und der notwendigen Solidarität. Wobei es wohl genügend Möglichkeiten gibt, diese Spannungspole nicht als Gegensatz zu verstehen, sondern als Ergänzung.
„Wir haben gedacht, dass es nach 1945 keinen Krieg mehr geben wird in Europa.“
Werner Freistetter
Frieden und Neutralität
Wie verstehen wir die Neutralität also richtig?
Neutralität wird oft verstanden wie eine heimliche Staatsdoktrin: Wir sind neutral, daher sind wir irgendwie unberührt von Entwicklungen und von Bedrohungen. Aber das stimmt nicht: Die Neutralität war im österreichischen Verständnis auch nach dem Vorbild der Schweizer immer eine militärische Neutralität, nie eine politische oder eine Gesinnungsneutralität. Ich bin für ein klares und eher enges Verständnis der Neutralität – nach dem Vorbild der Schweiz. Es wird auch oft vergessen, so der nächste Satz im Neutralitätsgesetz, dass Österreich diese Neutralität mit allen zu Gebote stehenden Mitteln verteidigen wird. Wir haben da ein bisschen einen nicht bloß eurozentrischen, sondern vielleicht auch einen etwas österreichzentrischen Blick.
Ein bisschen Frieden
1982 gewann die Sängerin Nicole beim Eurovision Song Contest mit dem Lied „Ein bisschen Frieden“. Gibt es nur mehr „ein bisschen Frieden“, wenn wir auf die aktuelle Weltlage mit ihren Krisenherden auf fast allen Kontinenten blicken?
Das hat es die ganze Zeit gegeben, dass wirklicher Friede nur sehr regional geherrscht hat. Wir haben seit 1945 eine Zeit gehabt, da hat Österreich wirklich in einem Friedenszustand gelebt. Wir haben dann nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gedacht, jetzt haben wir es endlich geschafft, dass in Europa kein Krieg mehr sein wird oder sein kann. In Wirklichkeit hat es immer schon anders ausgeschaut, wenn man nach Afrika schaut, nach Asien, nach Lateinamerika. All diese Bereiche in der Welt, die während dieser Jahrzehnte von Unruhen, Konflikten, Krisen oder Bürgerkriegen erschüttert waren. Daher muss man sich nicht wundern, dass dieses Lied tatsächlich einen Nerv getroffen hat. Ich kann mich noch gut an das Lied erinnern. Aber in der gesellschaftlichen und politischen Realität ist das Ringen um den Frieden eine immerwährende Aufgabe, so wie die immerwährende Neutralität. Ich würde sagen, es ist eine immerwährende Aufgabe und ein Ringen, ein echtes Ringen. Wir erleben heute, wie fragil alle menschlichen Institutionen in dieser Hinsicht sind. Denken wir an den Bedeutungsverlust, den etwa die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OECD) erlebt hat oder jetzt die UNO.
„Stalin hat nicht mehr erlebt, wie sein Imperium zusammengebrochen ist.“
Werner Freistetter
Herausforderungen für die Friedensethik
Vor welchen Herausforderungen steht heutzutage die Friedensethik?
Die Herausforderungen sind zum Teil die, die es schon die letzten Jahrzehnte gegeben hat. Also die Frage der Konfliktbearbeitung, die Frage einer internationalen Ordnung, die Lebensgerechtigkeit, Chancengerechtig- keit sowie Menschenrechte für alle garantieren kann. Oder die Frage nach der Verwirklichung von Gerechtigkeit als Fundament des Friedens. Neu hinzugekommen ist durch die technologischen Entwicklungen, etwa im militärischen Bereich, die Frage von automatisierten Waffensystemen, von Drohnen, von hybriden Kriegsformen. Zwar ohne Kriegserklärung, aber wo man versucht, den anderen auszuhebeln, zu unterminieren, zu destabilisieren. Und ganz groß dazugekommen ist natürlich die Frage des Klimas und der internationalen Entwicklung. Das sind sicher neue Herausforderungen, die auch die Verkündigung der Kirche und die katholische Soziallehre sehr stark fordern. Viele Menschen leben weltweit in Armut, in Situationen von Unrecht und unter autoritären Regimen.
Gerechtigkeit und Frieden
Wie hängen Gerechtigkeit und Frieden zusammen?
Sehr fundamental. Man unterscheidet beim Frieden oft zwischen positivem und negativem Frieden. Der sogenannte negative Frieden als Abwesenheit von Gewalt ist aber noch nichts Schlechtes. Der positive Frieden wird oft biblisch assoziiert mit dem Shalom, also ein Friede als Vollgestalt menschlichen Lebens, wo es wirklich in der Gesellschaft ohne Gewalt in der Konfliktbearbeitung zugeht. Das hängt natürlich mit der Frage nach der Gerechtigkeit zusammen. Das Problem dabei ist, dass es in unserer Welt keine perfekte Gerechtigkeit gibt. Gerechtigkeit ist tatsächlich, so würden wir heute sagen, die Verwirklichung von Menschenrechten, sie ist die Basis für ein friedliches Zusammenleben, weil die Herrschaft des Rechts eben die Realität von Gewalt begrenzen und ablösen soll. Es gibt eine schöne Definition, dass Friede ein Prozess ist, in dem Gewalt durch die Herrschaft des Rechts abgelöst wird. Das Problem mit der Gerechtigkeit: Es ist nie vollkommen lösbar.
Der Papst über den Frieden
Welche „Macht“ hat der Papst in diesem Zusammenhang? Der sowjetische Machthaber Stalin fragte einst spöttisch: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“
Stalin hat selbst nicht mehr erlebt, wie sein Imperium zusammengebrochen ist, trotz seiner Divisionen. Dafür gab es viele Ursachen: Ich erinnere etwa gerne an die Schlussakte von Helsinki mit der Anerkennung der Menschenrechte, die dann in diesem Herrschaftsbereich Menschen animiert hat, sich zu Gruppen zusammenzuschließen und das auch einzumahnen. Und Papst Johannes Paul II. hat in seinen Botschaften immer wieder darauf hingewiesen, dass der Zusammenbruch dieses Systems nicht bloß eine Frage von Wirtschaft und Politik ist, sondern auch eine Frage, wie man mit den Menschen umgeht: Wie können Menschen leben? Wie sind ihre Rechte gesichert? Der Zusammenbruch hatte also viel tiefere Wurzeln als nur eine ineffektive Wirtschaft und ein Missmanagement in der Organisation des Staates. Diese tiefen Dimensionen, die hat ein Papst immer anzusprechen und lebendig zu halten. Er muss dringend die Menschenwürde in Erinnerung rufen. Er muss mahnen, dass der allgemeine Rüstungswettlauf aufhört, dass die in verschiedenen Staaten bereits zur Verfügung stehenden Waffen auf beiden Seiten vermindert werden, dass Atomwaffen verboten werden und dass endlich alle aufgrund von Vereinbarungen zu einer entsprechenden Abrüstung mit wirksamer gegenseitiger Kontrolle gelangen.
Zur Person
Werner Freistetter, Militärbischof für Österreich seit Juni 2015.
Werner Freistetter zum Nachhören
Was Militärbischof Freistetter zum großen Menschheitstraum „Frieden“ zu sagen hat, hören Sie in der Serie „Perspektiven“ im Podcast auf ▶ radioklassik.at