Geheimnisse im Stephansdom

Inventarisierung
Ausgabe Nr. 48
  • Kunst und Kultur
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Domarchivar Reinhard Gruber: „Im Domarchiv gibt es schon ab dem 14. Jahrhundert aufschlussreiche Inventare, zunächst für die Reliquiensammlung, dann auch für die Ausstattung des Stephansdomes.“
Domarchivar Reinhard Gruber: „Im Domarchiv gibt es schon ab dem 14. Jahrhundert aufschlussreiche Inventare, zunächst für die Reliquiensammlung, dann auch für die Ausstattung des Stephansdomes.“ ©Domarchiv St. Stephan
Die Wasserspeier gehören ebenfalls zum Inventar des Domes.
Die Wasserspeier gehören ebenfalls zum Inventar des Domes. ©Pexels
Anna Stuhlpfarrer vermisst ein priesterliches Ornat, Lisa Müller fotografiert: „Wir versuchen die Objekte stilistisch einzuordnen, die Entstehungszeit und die Künstler zu bestimmen.“
Anna Stuhlpfarrer vermisst ein priesterliches Ornat, Lisa Müller fotografiert: „Wir versuchen die Objekte stilistisch einzuordnen, die Entstehungszeit und die Künstler zu bestimmen.“ ©Stuhlpfarrer/Müller,

Seit Monaten arbeiten Anna Stuhlpfarrer und Lisa Müller gemeinsam mit Domarchivar Reinhard Gruber daran, die Schätze im Stephansdom neu zu inventarisieren.

Von prächtigen Messgewändern über historische Inventarbücher bis hin zu barockem Schmuck – die Digitalisierung der Kunstgüter des Domes ist nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch eine Reise durch Jahrhunderte der Geschichte. Mehrere Tausend Gegenstände im Wiener Stephansdom warten darauf, neu erfasst zu werden, genauer gesagt begutachtet, fotografiert, beschrieben und in der Datenbank gespeichert zu werden. Anna Stuhlpfarrer und ihre Kollegin Lisa Müller vom Referat für Kunst- und Denkmalpflege der Erzdiözese Wien sind schon einige Monate gemeinsam mit Domarchivar Reinhard Gruber dabei, das Kunstgut der Stephanskirche neu zu inventarisieren. 

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Letzte Inventarisierung im Stephansdom 2003

„Unsere Basis ist das Inventar des Domes aus dem Jahr 2003. Damals wurden die Gegenstände noch analog fotografiert und die Fotos danach eingescannt,“ erzählt Anna Stuhlpfarrer im Gespräch mit dem SONNTAG. „Heute haben wir technisch bessere Möglichkeiten und können zum Beispiel bei einem mehrteiligen Priestergewand bis zu 40 Fotos mit Detail-Aufnahmen machen“, freut sich die Kunsthistorikerin. 

Das digitale Inventar von 2003 ist die eine Quelle, daneben gibt es eine Vielzahl an alten Inventarbüchern aus früheren Phasen der Domgeschichte. „Im Domarchiv gibt es schon ab dem 14. Jahrhundert Inventare, zunächst für die Reliquiensammlung, dann auch für die Ausstattung des Stephansdomes“, erklärt Domarchivar Reinhard Gruber. „Man hat das meistens dann gemacht, wenn eine Amtszeit zu Ende ging. Also wenn ein, wie man damals sagte Churmeister, also heute Dompfarrer, gestorben ist und ein neuer ernannt wurde.“ Unter den Inventarbüchern gibt es zahlreiche dicke alte Bände, teilweise handgeschrieben, zum Teil gedruckt und mit handschriftlichen Anmerkungen versehen. „Eine wichtige Quelle ist das berühmte Salzbacher-Inventar aus dem 19. Jahrhundert“, so Reinhard Gruber. Aus den historischen Inventarbüchern schöpft das Team 2024 wertvolle Informationen etwa zu Schenkungen oder zu Leihgaben an den Stephansdom. „Da erfährt man, was wann gekommen ist und woher es stammte“, führt der Domarchivar aus.
 

Stephansdom: Bei der Inventarisierung kommt Geheimes ans Licht

Wurden in früheren Zeiten auch Weißwäsche und Mobiliar in den Inventaren aufgelistet, geht es heute im Wesentlichen um das „Kunstgut“, das in einem Zeitraum von drei Jahren neu festgehalten werden soll. „Wir versuchen alles zu erfassen, was kunsthistorisch wertvoll ist oder von Bedeutung für die Pfarrgeschichte oder für die Liturgie.“ Derzeit sind Anna Stuhlpfarrer und Lisa Müller mit der Inventarisierung der Paramentenkammer des Domes (ein Teil der „Unteren Sakristei“ an der Südseite des Domes) befasst. Hier werden kostbare priesterliche Messgewänder mit klingenden Namen wie Manipel, Dalmatik, Tunicella oder Pluviale gelagert. Ebenso in der Liturgie verwendete Textilien wie das Korporale (ein quadratisches Tuch für die Wandlungsgefäße) oder die Palla (textile Kelchabdeckung). „Wir fotografieren die Objekte, vermessen und beschreiben sie, versuchen sie stilistisch einzuordnen, die Entstehungszeit zu bestimmen und, wenn es möglich ist, auch den Künstler, die Künstlerin herauszufinden“, schildert Anna Stuhlpfarrer. Auch die Technik, mit der die Gegenstände hergestellt wurden, wird bestimmt, „bei Stickereien zum Beispiel, ob das eine Chenillestickerei ist oder schon eine Kurbelstickerei“, so die Kunsthistorikerin. Auch eine Zustandsbeschreibung der Objekte ist wichtig, um eine eventuelle Restaurierung oder bessere Lagerung zu veranlassen.
 

Kunst und manchmal auch Krempel

Erfasst werden so in den kommenden Jahren sämtliche Kunstgüter des Domes „vom Keller bis zum Dach, ja bis zur Turmspitze eigentlich“, so Anna Stuhlpfarrer, um in einer digitalen Datenbank detailliert eingetragen zu werden. Auch die Glocken, Statuen an den Außenfassaden bis hin zu den Wasserspeiern werden dokumentiert. Neben den für die Gläubigen zugänglichen Kirchenräumen des Domes (Kirchenschiffe, Kapellen) werden die Reliquienkapelle, der Dachboden und sämtliche Depoträume durchforstet und die darin aufbewahrten Gegenstände begutachtet. „Da kristallisiert sich schnell heraus, dass wir eigentlich ein Platzproblem haben“, meint Domarchivar Reinhard Gruber. Der Inventarisierungsprozess wird auch zum Anlass genommen, um – etwa am Dachboden – zu entrümpeln. Hier habe sich im Laufe der Jahre einiges an wertlosem Zeug wie alte Ausstellungsgerüste oder Platten angesammelt, „die doch nie mehr verwendet werden.“

Was im Stephansdom so alles schlummert

Während der Inventarisierung wird auch so manche Kastentür geöffnet, die über Jahre verschlossen war und „wo manchmal erst der Schlüssel ausfindig gemacht werden muss“, gibt der Domarchivar Einblick. Ob es da schon einmal eine Überraschung über eine besondere Entdeckung gab? Reinhard Gruber berichtet: „Bei so einer Schranköffnung auf dem Dachboden sind wir auf den barocken Schmuck für die so genannte Hausmuttergottes gestoßen. Das ist eine steinerne, spätromanische Figur, die in der Eligiuskapelle steht und ursprünglich aus dem Himmelpfortkloster stammt.“ Der Schmuck wurde einst eigens für die Marienstatue angefertigt, um sie nach barockem Geschmack etwas lieblicher zu gestalten. „Wir wussten zwar, dass es diesen gegeben hatte, aber niemand rechnete damit, dass der Schmuck noch da war.“ Auch im Dom gilt: Manchmal öffnet ein alter Schrank die Tür zu längst vergessenen Geheimnissen. Der Stephansdom birgt noch so manche Überraschung. 

Buchtipp: Standardwerk über den Stephansdom

„Die schönsten Momente in meiner täglichen Arbeit sind jene, wo ich merke, dass meine Arbeit Sinn macht und meine Domvermittlung ankommt“, sagt Domarchivar Reinhard Gruber, der seit bald 30 Jahren in Sankt Stephan tätig ist. Der Dom ist ihm zum vertrauten Freund geworden, vor dem er nach wie vor großen Respekt habe. Soeben ist Grubers Standardwerk über den Stephansdom in einer überarbeiteten Neuauflage erschienen – auf dem aktuellen Stand der Forschung mit zum Teil neuen Fotos und einem ausführlichen Kapitel über die neue Riesenorgel. Klar und verständlich vermittelt Gruber alles Wichtige in der spannenden Geschichte unseres liebsten Wahrzeichens und bringt uns auch die spirituellen Botschaft des Domes näher.

 

Reinhard H. Gruber, Der Wiener Stephansdom. Porträt eines Wahrzeichens – Überarbeitete Neuauflage des Standardwerks mit allen Infos zur Geschichte des Doms, seinen Kunstwerken und seiner religiösen Botschaft, Tyrolia, 192 Seiten, ISBN: 978-3-7022-4243-5, EUR 38,00

Autor:
  • Portraitfoto von Agathe Lauber-Gansterer
    Agathe Lauber-Gansterer
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