Chorea Huntington: Unheilbar leben

Passionswege
Ausgabe Nr. 10
  • Soziales
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Max Weissensteiner in seiner Wohnung in Wien. Seit er weiß, woran er vermutlich sterben wird, lebt er umso achtsamer: „Ballast und Verhalten, das mir nicht gut tut, lasse ich los“ ©privat

Max Weissensteiner trägt eine unheilbare Erbkrankheit in sich: Chorea Huntington. Wie seine Großmutter und seine Mutter. Wie mit diesem Wissen leben?

Die unheilbare Erbkrankheit zerstört nach und nach die Zellen im Gehirn. Max’ Antwort: sich immer wieder fragen, was mir wirklich wichtig ist. Jetzt. 

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Mich kann nichts mehr so leicht umhauen“, sagt Max Weissensteiner. Der 33-Jährige sitzt in seiner 45-Quadratmeter-Wohnung im 17. Wiener Gemeindebezirk. Dort, wo die Gassen schon ruhiger werden und die Altbauten nicht ganz so hoch in den Himmel ragen. Max weiß, dass er eine tödlich endende Krankheit in sich trägt: Chorea Huntington. Es ist eine Erbkrankheit, die nach und nach ganz bestimmte Gehirnzellen abtötet. „Chorea kommt vom griechischen Wort für Tanz“, sagt Max. „Denn ein Teil der Symptome sind starke Bewegungsstörungen, die an tanzähnliche Bewegungen erinnern. Veitstanz ist ein alter Name. Das waren auch Symptome, die man bei meiner Oma gesehen hat.“

Mit der Oma und der Uroma und seiner Mama wächst Max in Ybbsitz in Niederösterreich auf. Es ist Anfang der 1990er-Jahre, als sich bei seiner Oma erste Symptome zeigen: Stimmungsschwankungen. Nach und nach kommen Bewegungseinschränkungen dazu. Stricken, Kochen, Essen, das alles geht nicht mehr so wie vorher: „Meine Oma war die Erste in der Familie, wo sichtbar wurde, dass da etwas ist“, sagt Max. Anfang 50 ist die Oma damals, Max selbst gerade mal ein Jahr alt.

Als Symptome und Ratlosigkeit in der Familie immer stärker werden, bringt ein Neurologe in Amstetten die Gewissheit: „Da ist zum ersten Mal dieser Name im Raum gestanden. Chorea Huntington. Neurodegenerativ. Vererbbar. Und unheilbar“, sagt Weissensteiner. „Es ist, als ob man damit in einen neuen Lebensabschnitt tritt. Plötzlich war die Krankheit Teil unserer Familiengeschichte.“

Positiv. Surreal. Und irgendwie weit weg.

Wer diese Krankheit erbt, weiß, dass er irgendwann wohl daran sterben wird. Die zwei Töchter der Oma lassen sich testen: Max’ Tante hat nichts, Max’ Mutter aber ist positiv. Mit 17 spricht er mit seiner Mutter erstmals darüber, doch: „So viele andere Themen waren damals wichtiger für mich.“

„Ich habe kein Bedürfnis nach Materiellem. Ich freue mich an kleinen Dingen.“


Max Weissensteiner

Erst als Max nach der Matura ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Pflegeheim in Waidhofen/Ybbs beginnt und dort intensiv mit kranken Menschen zu tun hat, wird die mögliche eigene Krankheit präsenter. Eines Tages im Jahr 2010 sitzt er vor  demselben Neurologen wie Jahre und Jahrzehnte zuvor schon seine Mutter und seine Oma. „Ich bin positiv, hat mir der Arzt gesagt“, erinnert sich Max. „Das war so surreal für mich. Überhaupt nicht greifbar. Insofern nicht so dramatisch, wie man sich das vorstellen könnte.“ Irgendwie war die Erkrankung noch weit weg, sagt Max: „Ich hatte ja so viele andere Themen, die wichtiger waren. Was mache ich nach meinem Freiwilligen Sozialen Jahr? Wohin gehe ich?“

Das Leben leben

Anfang 20 zieht Max nach Wien, studiert Bildungswissenschaften, arbeitet nebenbei in der Behindertenbetreuung, macht ein Praktikum in Autistenhilfe. Und geht auf Partys, hört viel Musik, verbringt Zeit mit seinen Freunden. „Selbstständig werden, Wien erkunden, neue Kontakte knüpfen. Ich war da gut abgelenkt“, sagt Max. Er macht den Bachelor, geht an die Fachhochschule (FH), macht den Master für Klinische Soziale Arbeit. Und nach und nach wird ihm bewusst, was es bedeutet, Chorea Huntington zu haben.

Denn während seiner Zeit an der FH werden die Symptome bei seiner Mutter immer stärker. Unruhiges Sitzen, pendelnde Bewegungen, motorische Einschränkungen. „Ich bin dann immer mehr in die Verantwortung gerutscht“, sagt Max. „Habe sie unterstützt und konnte das Thema einfach nicht mehr vor mir leugnen.“

„Es ist eh alles egal.“

Eine Zeit der Leere macht sich in seinem Leben breit. „Was mache ich da eigentlich? Und wozu und warum? Endet das nicht eh alles im Nichts?“, fragt er sich. „Ich habe zu allen Menschen in meiner Nähe eine Distanz gespürt“, sagt Max. Seine Freunde leben in ganz anderen Welten, so sein Gefühl damals. „Ich habe nicht wirklich wo dazu gepasst.“ Auch nicht zu seiner Mutter, die langsam zum Pflegefall wird. Was ihm emotional zu schaffen macht. Mit seiner eigenen Krankheit und dem Gefühl, es ist eh alles egal. Endet ja sowieso. „Es war eine Ziellosigkeit, die ich damals gespürt habe“, sagt Max. Wie da jemals wieder herausfinden?

Heute sagt Max, dass er damals nicht den Mut gehabt hat, darüber zu reden, wie es ihm wirklich geht: „Ich habe mich noch nicht wirklich selbst gekannt.“ Das ändert sich, als er sich erstmals Freunden anvertraut. Und sie ihn bestärken, ihm Mut zusprechen. „Ich glaube“, sagt Max, „insgeheim hatte ich Angst davor, dass die Reaktion der Freunde noch mehr Panik reinbringt. Aber meine Freunde haben ruhig reagiert. Haben mich mit offenen Ohren und Armen angenommen.“

„Die Krankheit hat mich zu mir geführt.“

Innehalten, in sich hineinspüren und fragen: Wie geht es mir gerade? Es sind Momente wie diese, die Max wieder herausgeführt haben aus seiner Zeit der Leere und Sinnlosigkeit. Mittlerweile ist er 33 Jahre alt, arbeitet als Sozialarbeiter in einem Jugendzentrum in Mödling und lebt in seiner Freizeit als Rapper seine Liebe zur Musik. Vor kurzem hat er seine neue Single herausgebracht: „3341“ heißt sie. Es ist die Postleitzahl seiner Heimatgemeinde. „Durch meine Krankheit habe ich einen Draht zu mir selbst hergestellt“, sagt Max. „Was tut mir gut? Was stresst mich? Was brauche ich wirklich?“

Das Wissen, einmal an Chorea Huntington zu erkranken, hat für ihn auch viel Klarheit gebracht: „Ich habe kein starkes Bedürfnis nach übermäßig Materiellem“, sagt Max. „Ich freue mich an kleinen Dingen. Und lasse mich von vermeintlich existenziellen Dingen nicht schrecken.“

Heute sagt Max: „Die Krankheit hat mich zu mir geführt.“ Er beschäftigt sich mit Methoden, die ihm helfen, sich im Hier und Jetzt zu beruhigen. Max meditiert, lernt, achtsam mit sich umzugehen, auf seinen Körper zu hören. Und aus dieser Ruhe heraus kann er umso besser auch anderen helfen. Seiner Mutter zum Beispiel.

Die ist mittlerweile ein schwerer Pflegefall. Max trägt die Obsorge. Seine Mutter liegt in jenem Pflegeheim, in dem er einst sein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht hat: „Ich bin sehr dankbar, dass sie genau dort ist. Ich merke, dass sie gut umsorgt ist.“ Er besucht sie regelmäßig. Auch wenn sie sich nicht mehr mitteilen kann, sprechen kann, hat er das Gefühl, dass sie sich dort wohl fühlt, dass es ihr gut geht. 

„Wenn man all das erlebt hat, ist man, glaube ich, für andere Dinge definitiv gewappnet. Mich hat jetzt schon länger nichts mehr voll aus dem Sattel gerissen“, sagt Max. Und ergänzt: „Dafür bin ich sehr dankbar.“ 

Autor:
  • Gerlinde Petric-Wallner
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