Sommerakademie in Kremsmünster
Spiritualität hält den Himmel offenWas bedeutet das christliche Erbe für die heutige Gesellschaft, die damit oft wenig anfangen kann?
Isabella Bruckner: Die biblischen Texte, die christliche Liturgie und Frömmigkeit haben über Jahrhunderte die Wünsche, Ängste, Hoffnungen und Erfahrungen der Menschen Europas geprägt und sind tief in ihre Sprache und Bildwelt, ihre Gedanken- und Werthorizonte, aber auch in die Gestaltung ihrer Institutionen und politischen Ordnung eingegangen. Das christliche Erbe hat vor allem mit einer Erinnerung an die Verletzlichkeit und Sterblichkeit des Menschen zu tun. Es bietet ein Kritikpotenzial gegen jede Form totalisierender Herrschaft und vermittelt die Idee, dass jeder und jede Einzelne berufen ist, etwas mit seinem oder ihrem Leben anzufangen, was sich nicht allein am eigenen Profitstreben orientiert. Von daher hält es für die Menschen ein Versprechen des Heil-Seins bereit, das die Säkularität schlichtweg nicht zu geben vermag. Vor allem aber stellt es die menschliche Existenz und die Geschichte als Ganzes unter das Zeichen der Vergebung und des neuen Anfangs – eine Zusage, derer wohl alle bedürfen.
Wie kann den heutigen Menschen die Schönheit der christlichen Glaubenspraxis neu oder wieder erschlossen werden?
Glaubenspraxis ist sehr vielfältig, dazu gehört ja genauso die Ethik. Wenn es um die Liturgie geht, zählt zunächst einfach Qualität, ob in der musikalischen oder textlichen Gestaltung. Schönheit ist außerdem nicht ablösbar von Intelligenz, ebenso wenig wie von den realen Erfahrungen, die Menschen hier und heute machen. In unseren Riten steckt so viel an Weisheit, an Erfahrungswissen und an impliziter Philosophie, was uns meistens gar nicht so bewusst ist.
Glaube drückt sich auch symbolisch aus. Sind wir noch offen für Rituale?
Symbolfähigkeit geht dem Menschen nicht verloren, ebenso wenig wie seine Fähigkeit, sprechen oder lesen zu lernen. Mit vielen Zeichen können wir unmittelbar tiefergehende Bedeutungsebenen verbinden, einfach aufgrund ihres Phänomencharakters; dass Wasser reinigt und Leben spendet, verstehen auch schon die Kinder. Aber Symbole sind in ihren Bedeutungsebenen zugleich kulturell oder eben religiös codiert: Brot ist in Asien kein Grundnahrungsmittel; Gläubige aus China assoziieren deshalb mit der Eucharistie ungleich schwerer das „tägliche Brot“ als europäische Christinnen und Christen. Hier braucht es dann in der Tat liturgische Bildung. Oftmals berauben wir uns aber selbst der Symboltiefe unserer Riten, indem wir z. B. die Osternacht nicht bei wirklicher Dunkelheit, sondern noch am lichten Abend feiern. Es geht darum, die Bedeutungsdichte und das Erfahrungspotenzial, die in den christlichen Riten und Gesten stecken, wirklich ernst zu nehmen und zur Entfaltung zu bringen.
Wir glauben nicht allein. Wie kann der Gedanke der Gemeinschaft heute eingespielt werden?
Der Großteil der Menschen sehnt sich nach Beziehungen, die über den Familienkreis hinausgehen. Die Lebensumstände haben sich einfach sehr verändert: Wir sind immens mobil geworden, unsere Möglichkeitsspielräume haben sich enorm erweitert und vor allem die virtuellen Welten bieten uns eine schnelle Form der Ablenkung und der zumeist oberflächlichen Lustbefriedigung. Aber auch wenn wir heute aufgrund dieser Umstände nicht mehr unser halbes Leben Mitglied in demselben Verein, in der Orts- oder Pfarrgemeinschaft bleiben, bieten diese verschiedenen Formen von Gemeinschaften auch heute noch für viele Menschen, speziell für Jugendliche, ein enormes Reifungspotenzial. Gerade in den kirchlichen Gemeinschaften fehlt aber manchmal eine sinnvolle Konfliktkultur. Diskussionen und Konflikte auf faire Weise auszutragen, kann auch ein zutiefst geistlicher Prozess sein – das zeigt uns nicht zuletzt Jakobs Kampf mit dem Gottesengel am Jabbok (Gen 32,23–33).
Sie sind benediktinisch geprägt und lehren an der internationalen Hochschule Sant’Anselmo in Rom. Was ist für Sie die Stärke der benediktinischen Spiritualität?
Der beständige Rhythmus des Gebets: Klostergemeinschaften „halten den Himmel offen“, indem sie stellvertretend für andere loben, klagen, danken und bitten, wenn man selbst oft dazu keine Zeit findet. Zudem glaube ich, dass gerade in der heutigen stets flexibel und sich so rasch ändernden Zeit die Treue zu einem Ort und die Sorge für ein Haus mit Geschichte ein großes Geschenk für eine geistige und kulturelle Landschaft sind – vor allem, weil die Klöster ja nicht nur für die Klostergemeinschaft selbst da sind, sondern für ganz viele Menschen, die in der Umgebung wohnen, die dort arbeiten oder auch von fern kommend einfach ein paar Tage zu Gast sind. Die Gastfreundschaft ist eine der besonderen Stärken der benediktinischen Spiritualität. Die lässt schon etwas aufleuchten von jener festlichen Verheißung der offenen Stadt, als die das himmlische Jerusalem besungen wird.