Martin Lintner „Sexualität gehört zur guten Schöpfung“
Katholische SexualmoralSeit 2009 lehrt der Servitenpater Martin M. Lintner Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen in Südtirol. Mit seinem Buch „Christliche Beziehungsethik“ bietet der Dekan einen systematischen Gesamtentwurf einer erneuerten, zeitgemäßen katholischen Sexualmoral für heute.
Viele halten sich nicht mehr an die Vorgaben der katholischen Sexualität
MARTIN M. LINTNER: Ja, das glaube ich schon. Bei der Leibfeindlichkeit ist die Kirche zwar oft an der Kippe entlang manövriert, aber sie ist nicht abgestürzt. Denn hätte sie sich tatsächlich einer Leibfeindlichkeit hingegeben, dann hätte sie die Auferstehung des Fleisches nicht mehr verteidigen können. Aber lust- und sexualfeindlich war die Kirche allemal, da gibt es nichts schönzureden.
Diese Tendenzen sind aber nicht primär christlichen Ursprungs, sondern antike philosophische Strömungen haben über die Kirchenväter in das christliche Denken Eingang gefunden. Das sexuelle Begehren galt es zu bezähmen. Es galt als sündhaft, weil es sich dem freien Willen entzöge und deshalb als Kontrollverlust über sich selbst erfahren wurde. Sexualität hat man in der Folge in der Kirche als ein Übel innerhalb der Ehe geduldet, weil sie zur Fortpflanzung notwendig ist. Lust hat man als etwas Selbstsüchtiges verdächtigt, dass Lust den Partner beziehungsweise die Partnerin zum Lustobjekt degradieren würde. Deshalb konnte man Lust und auch die Erfahrung der sexuellen Lust nicht wertschätzen, sondern hat sie eben als Gefahr angesehen.
Diese Hypothek, die wir weiterhin mit uns tragen, hat viele Menschen von der katholischen Sexualmoral entfremdet, beziehungsweise die Menschen halten sich in einzelnen Punkten ganz einfach nicht daran.
„Sexualität ist nicht nur eine Sprache für Liebe und Zuneigung, sondern auch Mittel, um Macht auszuüben.“
Martin M. Lintner
Wie gelangen wir dann im Einklang mit der Bibel zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Sexualität?
Gerade die Bibel zeigt uns, dass Sexualität etwas Schönes ist, dass sie zur Schöpfung gehört, die ausdrücklich als gut qualifiziert wird, und dass die Sexualität Menschen etwas vermitteln kann vom Heil-Sein in der Welt. Ich denke da beispielsweise an Genesis 2, an diese wunderbare Stelle der Schöpfung der Frau aus der Rippe, aus der Seite des Menschen, der sich dann im Anblick der Frau als Mann erkennt und ausruft: „Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.“ Und weiter heißt es: „Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und hängt seiner Frau an und sie werden ein Fleisch.“
Ich verweise auch auf das Hohelied im Alten Testament, eine wunderschöne Textsammlung von Liebesliedern, von Brautliedern, von erotischen Liedern, die einfach, offen und ohne Scheu die Schönheit von Sexualität und erotischem Begehren zum Ausdruck bringen, ohne sie moralisch negativ zu bewerten. Da hätten wir ganz viele Anknüpfungspunkte, um diese positive Deutung von Erotik und sexueller Lust auch biblisch zu begründen.
Aber finden wir in der Bibel in jüngeren Texten nicht bisweilen auch eine gewisse Zurückhaltung, beziehungsweise sogar eine skeptische Beurteilung der Körperlichkeit, der Schönheit und damit auch der Sexualitätt?
Ja, es handelt sich um Schichten in der Weisheitsliteratur, die schon hellenistisch beeinflusst sind. Was wir in der Bibel auch sehen, und das zieht sich durch von den ersten Kapiteln bis hin auch in die neutestamentlichen Schriften, das ist die Erfahrung, dass Menschen hinsichtlich der Sexualität auch verletzt werden können. Dass Sexualität nicht nur eine Sprache ist für Liebe und Zuneigung, sondern auch ein Mittel, um Macht auszuüben. Dass Sexualität offensichtlich etwas ist, was den Menschen im Innersten berührt, sodass sie eben auch, ich sage es jetzt bewusst, anfällig dafür wird, Menschen auch zu manipulieren oder zu demütigen. Dass Sexualität immer auch verbunden ist mit der Erfahrung von möglichem Kontrollverlust, und zwar in einem zweifachen Sinn: dass jemand die Kontrolle über die eigenen sexuellen Impulse verliert und sich zu Handlungen verleiten lässt, für die er sich danach schämt; und dass jemand die Kontrolle über sich verliert, weil jemand anderer über ihn bestimmt und ihn sexuell nötigt und missbraucht. Sexualität ist damit verbunden mit der Erfahrung von Scham und Beschämung, sowohl für die, die die Kontrolle über sich selbst verlieren, indem sie anderen sexuelle Gewalt zufügen, als auch für jene, die über sich die Kontrolle verlieren, weil sie zum Objekt werden von sexuellen Verhaltensweisen, von sexuellen Begierden anderer Menschen. Die Bibel zeigt hier einen sehr realistischen Blick auf die Sexualität. Aber, und das scheint mir entscheidend zu sein: Die Bibel lässt sich nicht dazu verleiten, deshalb die Sexualität als etwas Negatives zu sehen, sondern sie ist und bleibt Teil des Menschen, des geschaffenen Menschen, und damit der Geschöpflichkeit. Sie bleibt deshalb auch eine Dimension des Menschseins, durch die der Mensch mit Gott in Berührung kommen kann.
Welche Reichtümer birgt für Sie die katholische Sexuallehre?
Wenn ich an die historischen Entwicklungen denke, dann gibt es da einige Potentiale, die wir heute neu entdecken müssen. Beispielsweise den Schutz der Würde der einzelnen Personen. Wie ein roter Faden findet sich in der Lehre der Kirche der Schutz der schwächeren Seite. In der Regel war das der Schutz von Frauen und Kindern, die in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten die gefährdeten Menschen waren. Und das ist etwas, was wir auch in unserer heutigen Zeit neu entdecken müssen. Ein weiteres Stichwort, das ich auch in meiner „Beziehungsethik“ aufgegriffen habe als ein wesentliches Kriterium, das ist der Umgang mit Vulnerabilität, mit Verwundbarkeit. Die Kirche hat die Ehe geschützt, indem sie in den ersten Jahrhunderten einfach übernommen hat, dass die Ehe ein Rechtskonstrukt ist oder ein Rechtsobjekt, das hauptsächlich die Familiengründung und die Legitimität von Kindern und damit auch die Klärung von Erbschaftsangelegenheiten sichern möchte. Zugleich hat sie dann auch das vom römischen Recht herkommende Prinzip des freien Konsenses verteidigt, also sich auch für die Würde der Frau als Rechtssubjekt eingesetzt. Ein zweiter Aspekt: Die Kirche hat die Frau auch geschützt vor sexueller Nötigung. Indem sie zum Beispiel das vom germanischen Recht herkommende Denken, dass Geschlechtsverkehr die Ehe konstituiert, und zwar unabhängig davon, ob dieser freiwillig und konsensuell oder auch durch Gewalt geschehen ist, abgelehnt hat. Die Kirche kennt die Lehre vom „Matrimonium ratum et consumatum“, das heißt, dass die Ehe gültig zustande kommen muss durch den freien Konsens und unauflöslich wird durch den ersten Geschlechtsverkehr nach dem Konsens.
„Es geht auch nicht darum zu fragen, wer wann was mit wem darf.“
Martin M. Lintner
Was meint Vulnerabilität, Verwundbarkeit, im Zusammenhang mit der katholischen Sexualmoral?
Menschen sind besonders verwundbar in Beziehungen, in die sie eingebunden sind. Beziehungen sind immer auch dadurch geprägt, dass sie aus wechselseitigen Abhängigkeiten bestehen, die Menschen vulnerabel machen. Je enger, je intimer solche Beziehungen sind, desto mehr öffnet sich ein Mensch und gibt auch mehr von sich preis, desto verwundbarer macht er sich auch, umso mehr bedarf es dann auch eines Schutzrahmens. Und da, so glaube ich, versucht die katholische Ehelehre, solch einen Schutzrahmen zu bieten. Und dann geht es auch nicht darum zu fragen, wer wann was mit wem darf, sondern eher darum, was die Kirche durch die Ehelehre schützen will.
Es gibt in der heutigen Zeit viele Katholiken und Katholikinnen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr kirchlich heiraten, aber in Beziehungen leben, in denen sie verwirklichen, was die Kirche durch ihre Ehelehre zu schützen versucht wie Verbindlichkeit, Verantwortung füreinander und für die Kinder, denen ein Paar das Leben schenkt, ein respektvoller und liebevoller Umgang miteinander. Gibt es da Möglichkeiten, sich zu verständigen oder sagen wir weiterhin nur, dass alles, was außerhalb der Ehe geschieht, weiterhin objektiv schwer sündhaft bleibt und deshalb abzulehnen ist? Oder gibt es die Möglichkeit, differenziertere Zugänge zu finden?
Früher wurde sehr viel normiert, bis in Schlafzimmerdetails hinein. Brauchen wir heute noch solche Normierungen?
Die Normierungen brauchen wir dort, wo es um Grenzen geht, die nach unten hin nicht überschritten werden dürfen, weil sie immer bedeuten, dass Menschen in ihrer Würde, in ihrer Freiheit, in ihrer Selbstbestimmung, in ihrer körperlichen und psychischen Integrität verletzt werden. Nach oben hin, würde ich eher sagen, da brauchen wir so etwas wie eine Tugendethik oder eine Befähigungsethik, dass wir dann eben nicht mehr im Detail den Menschen vorschreiben, was sie tun müssen, sondern eher, dass wir versuchen zu sensibilisieren für die Sinngehalte, die mit der menschlichen Sexualität verbunden sind, und wie man damit auch selbstverantwortlich umgehen kann, ohne dies jetzt im Detail zu normieren.
Da, glaube ich, brauchen wir tatsächlich eher eine Tugendethik mit weniger Regeln und nicht mehr eine Normenethik mit dem „Du sollst“. Wir können, denke ich, auch der Sehnsucht von Menschen nach gelingenden Beziehungen vertrauen, die ihnen hilft und sie motiviert, verantwortungsvoll nach bestem Wissen und Gewissen zu leben und ihre Beziehungen zu gestalten.