Machen Kleider Leute?
Gedanken des Alten Steffl – Teil 6
Unlängst habe ich einem offensichtlich sehr kulturell interessierten Wiener Ehepaar auf dem Stephansplatz zugehört, wie es sich über den Verlust der Kultur unterhalten hat. Die beiden besuchen wohl öfters die Wiener Staatsoper, abseits des musikalischen Hörgenusses scheint ihnen jedoch dort die unpassende Kleidung und das Verhalten anderer Opernbesucher sauer aufzustoßen. Menschen, die in Jeans und im T-Shirt die Staatsopernaufführung genießen, sind für die beiden Wiener wohl ungenießbar. „Die Besucherinnen und Besucher werden gebeten, der Opernaufführung in entsprechender Kleidung beizuwohnen!“, so heißt es auf einer Tafel im Operngebäude. Nun, was eine entsprechende Kleidung ist, darüber gehen die Meinungen sichtlich weit auseinander. Eine ähnliche Aufforderung gibt es auch in einer deutschen Kathedrale, meiner lieben Schwester, der Hohen Domkirche zu Köln; dort – so hat sie mir erzählt – heißt es beim Eingang: „Bitte verhalten Sie sich der Würde und der Heiligkeit des Ortes entsprechend!“ Und dann gibt es noch einige Piktogramme, die darauf hinweisen, dass man in geziemender Kleidung das Gotteshaus betreten möge, natürlich nicht rauchen und nicht essen soll.
Entsprechende Kleidung
Würde und Heiligkeit sind eigentlich Attribute, die wir besonderen Menschen zuschreiben beziehungsweise zusprechen. Kann man die Würde und Heiligkeit eines Gebäudes, eines Raumes verletzen? Eigentlich sind es die Besucher, ob Touristen oder Gottesdienstbesucher, die einem Kirchenraum Würde verleihen und Heiligkeit zusprechen. Es stimmt schon, dass ich auch manchmal den Kopf schüttle, wenn ich beobachte, wie unachtsam manche Menschen den Stephansdom betreten. „Im Dom geht es zu wie in einem Bahnhof. Es fehlt nur der Zug!“, hörte ich unlängst eine treue Kirchgängerin seufzen. Es gab und gibt immer wieder Diskussionen bei den ehrwürdigen Herren des Domkapitels, aber auch bei den direkt im Dom Verantwortlichen, ob man ein bestimmtes Verhalten einfordern, eine Bekleidungsvorschrift erlassen sollte. Bislang hat man es auf gut Wienerisch so gehandhabt, dass man keinem voreilig den Zutritt in diese heilige Stätte verwehrt hat. Auch der Herr Dompfarrer zeigt sich hier großzügig und betont unermüdlich, dass jeder herzlich im Dom willkommen sei.
„Kleider machen Leute!“
Oft werden Menschen nach ihrem Äußeren beurteilt, welche Marken-Kleidung oder Designer-Brille sie tragen, ob eine Rolex den Arm schmückt oder eine einfache Aufzieharmbanduhr. Sehr schnell bilden sich Menschen über diese Äußerlichkeiten eine fixe Meinung über andere, stecken sie in Schubladen, aus denen sie nicht mehr leicht herauskommen. „Kleider machen Leute!“, jeder kennt diesen berühmten Ausspruch. Im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ wird uns die Absurdität dieses Wortes deutlich vor Augen geführt. Im Grunde sind alle Menschen nackt. Wie sieht nun der eigentliche Hausherr des Domes die Problematik der Kleidung?
Im Alten Testament spricht der Herr zu Samuel:
„Sieh nicht auf sein Aussehen und seine stattliche Gestalt, denn ich habe ihn verworfen; Gott sieht nämlich nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der HERR aber sieht das Herz.“ (1 Sam, 16,7)
Mehr Gelassenheit in Sachen Kleidung
Natürlich macht es Sinn, sich zu bestimmten Anlässen festlich zu kleiden. Man wird auch einen der berühmten Wiener Bälle nicht in Trainingshosen und Turnschuhen besuchen. Doch braucht es vielleicht auch ein wenig Gelassenheit. Die äußerliche Form ist nicht alles und entscheidend.
Egal welche Kleider: Wir sind alle Menschen
Es kommt immer auf die innere Einstellung an, die sich nicht immer in der Kleidung zeigt. In Schlichtheit und Einfachheit trat auch Papst Franziskus auf. Seine weiße Soutane trug er wie ein Ordenskleid und seine schwarzen Hosen schienen durch. Wir alle sind Menschen.

Seien Sie gegrüßt! - Teil 6/8
Gedanken aus 23 Jahren, vormals abgedruckt im Pfarrblatt der Dompfarre zu Sankt Stephan.
Können Steine sprechen? Der Alte Steffl kann! In der Serie „Und schaut der Steffl lächelnd auf uns nieder …!“ im Pfarrblatt von Sankt Stephan tut er seit über 20 Jahren seine Meinung kund: einmal augenzwinkernd und verschmitzt, einmal nachdenklich und mit Sorge, jedoch stets respektvoll und mit Herz.
Aus höherer Perspektive und mit seiner jahrhundertelangen Lebenserfahrung kommentiert der Steffl – wie der Südturm des Stephansdoms von den Wienern gerne auch bezeichnet wird – das aktuelle Geschehen auf dem Stephansplatz und in der Welt um ihn herum. Wie die Gedanken des steinernen Zeugen konkret zu Worten werden, enthüllt Domarchivar Reinhard H. Gruber in seinem neuen Buch mit einem „Best-of“ der beliebten Beiträge.
Bereichert werden die Texte durch eindrucksvolle Fotos, die verborgene Details der Domkirche zeigen und ungewohnte Perspektiven eröffnen.

Zum Autor:
Reinhard H. Gruber ist Domarchivar zu Sankt Stephan in Wien.

Buchtipp:
Reinhard H. Gruber, Seien Sie gegrüßt! Gedanken des Alten Steffl, ISBN: 978-3-85351-336-1, 144 Seiten, EUR 30,00 erhältlich ab 23. 7. 2025
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