In der Wurzel liegt die Kraft
Kräuterweisheit aus den AlpenIm Herbst zeigt sich die Natur von einer stilleren, aber nicht weniger kraftvollen Seite. In den Alpen beginnt nun die Zeit der Wurzeln, Wildfrüchte und Heilpflanzen, die seit Generationen zur Stärkung und Heilung vor der kalten Jahreszeit genutzt werden.
Kräuter aus den Alpen
Die Luft ist klar, die Berge stiller als im Sommer. Nebelschwaden hängen über den Tälern, und auf manchen Almen liegt schon der Reif. Hier in den Tiroler Bergen in Zams lebt Kräuterexpertin Michaela Thöni-Kohler mit ihrer Familie und widmet sich seit einigen Jahren mit großer Leidenschaft den alpinen Heilpflanzen und Kräutern der Region. Thöni-Kohler verarbeitet Alpenkräuter zu einer Vielzahl wohltuender Produkte. Unter ihrer Hand entstehen Teemischungen, Kräutersalze, Sirupe, Liköre, Salben und vieles mehr. In ihrem Kräuterstadl in Zams reihen sich die vielfältigen Kräutererzeugnisse in Gläsern, Tiegeln und Fläschchen in zahlreichen Regalen aneinander.
Michaela Thöni-Kohler ist in den Tiroler Bergen bei Landeck aufgewachsen – in einer Zeit, in der Kinder noch, ohne von Handy oder Tablet beansprucht zu werden, stundenlang durch Wälder und Wiesen streiften. Ihre freie Zeit hat sie in der Natur verbracht, ihr Lehrer war ihr Großvater aus den Dolomiten – ein „Kräuterwissender“, wie sie ihn liebevoll nennt. Beim gemeinsamen Gehen und Schauen, beim Suchen und Entdecken vermittelte er ihr ganz nebenbei das uralte Wissen um die Heilkräfte der Alpenpflanzen.
Wissen um die Kraft der Kräuter
„Man war einfach draußen“, sagt sie heute. „Und das war mein Spielplatz.“ Die Stille der Berge und das Gehen in der Natur sind bis heute zentrale Dinge in ihrem Leben. Nach einem Studium in Modegrafik und Kommunikationsdesign in München und einem späteren Pädagogikstudium in Innsbruck entdeckte die Tirolerin bei einer Kräuterwanderung als Erwachsene das Wissen um die Kräuter und ihre Heilkraft neu für sich. Die Begeisterung dafür hat sie seither nicht mehr losgelassen. Seit 2014 ist sie geprüfte Kräuterexpertin, ihre Bücher erscheinen beim Tyrolia Verlag. In Kursen, Wanderungen und Vorträgen gibt Thöni-Kohler ihr Wissen weiter – mit Leidenschaft und mit Gespür für das, was Menschen heute oft fehlt: Verbindung zur Natur, zur Stille, zur Freude an der Schöpfung.
Die Berge waren mein Spielplatz.
Kräuter: Die Berge als Apotheke
Menschen, die Michaela Thöni-Kohler bei einer Kräuterwanderung durch die Tiroler Bergwelt begleiten, sehen bald mehr als nur eine schöne Landschaft. Zwischen den Steinen, am Rand der Wege, auf Almwiesen und in feuchten Senken wachsen Pflanzen, die seit Jahrhunderten als Heilmittel geschätzt werden. Die Alpen bilden nicht nur eine majestätische Kulisse – sie bergen auch eine Vielzahl an Heilpflanzen und Wildfrüchten. Im Herbst, wenn die Tage kürzer werden und die Farben der Natur sich in Gelb, Ocker und Rot verwandeln, beginnt eine besondere Zeit für die Kräuterfrau. „Jetzt zieht sich die Kraft der Pflanzen in die Wurzeln zurück“, sagt sie.

Rezept: Zwiebelpackerl
Eine kleine Zwiebel klein schneiden und in einer Pfanne ohne Fett leicht erwärmen; in zwei kleine Tücher geben und zwei Packerl machen. Diese dann bei Ohrenschmerzen auf die Ohren legen und mit einem Tuch festbinden.
Eine wahre Meisterin: die Meisterwurz
Eine der wichtigsten Heilpflanzen des alpinen Raums ist für Michaela Thöni-Kohler die Meisterwurz. „Die Meisterwurz ist eine wahre Meisterin unter den Heilpflanzen und gehört zu den bekanntesten und wichtigsten alpinen Heilpflanzen“, führt die Kräuterexpertin aus. Die ausdauernde, krautige Pflanze wächst in Hochstaudenfluren in einer Höhenlage zwischen 1.500 und 2.100 Meter. Ihre weißen Doldenblüten sind eher unscheinbar.
„Durch die in der Wurzel enthaltenen Bitterstoffe, Gerbstoffe und ätherischen Öle wirkt sie antibakteriell, entzündungshemmend, stark belebend und stärkend. Die Wurzeln fördern den Appetit, helfen bei Grippe und Erkältung, Säuremangel, Magen- und Darmgeschwüren.“ Bei verstopfter Nase empfiehlt Thöni-Kohler: „Einfach die getrocknete Wurzel auf eine heiße Herdplatte oder ein Stövchen legen und innerhalb kürzester Zeit löst sich die ,Verstopfung‘ der Nase. Bei herannahender Erkältung sollte man hingegen ein Stück Wurzel kauen.“ Sie soll auch bei Zahnschmerzen guttun. Bei Schiefern helfen aufgelegte Wurzelscheiben als Zugmittel.
Tipps zum achtsamen Graben von Wurzeln
- Nur eindeutig bestimmte Pflanzen sollten gesammelt werden, um Verwechslungen zu vermeiden.
- Gesammelt wird ausschließlich an sauberen, unbelasteten Orten – fern von Dünger und Hundespuren.
- Die Menge der geernteten Wurzeln sollte dem tatsächlichen Bedarf entsprechen.
- Die beste Zeit zum Graben ist der Herbst oder Vorfrühling, wenn die Kraft der Pflanze in der Wurzel liegt.
- Der Sammelort sollte nach der Ernte möglichst unberührt wirken.
- Ein größerer Teil der Pflanzen muss stehen bleiben, damit sie sich weiter vermehren können.
- Für Transport und Verarbeitung eignen sich Körbe oder Papiersäcke; gewaschen werden die Wurzeln mit klarem Wasser, geschnitten mit einem Porzellanmesser – anschließend im Schatten trocknen.
Graben nach Kräutern und Wurzeln
„Die Meisterwurz ist eine sehr heilkräftige Pflanze, früher galt sie auch als schutzmagische Pflanze“, erzählt Thöni-Kohler „Man hat sie sich umgehängt, um sich vor der Pest zu schützen – und auch vor Hexen.“ Ihr Geschmack ist bitter, doch ihre Heilkraft stark und vielfältig. „Die Meisterwurz ist ein allgemein stärkendes Universalmittel.“
Für das Graben der Wurzeln empfiehlt die Expertin, nur Wurzeln von Pflanzen zu sammeln, die man wirklich kennt: „Wichtig ist auch, nur an sauberen Orten zu sammeln, die nicht von Hunden oder Düngemitteln verunreinigt sind, und nur so viele Pflanzenteile zu nehmen, wie man verbraucht.“
Die Meisterwurz galt früher auch als schutzmagische Pflanze.
Die guten Wilden: Wildfrüchte
Während sich die Pflanzenwelt im Herbst langsam zurückzieht und Brauntöne zu dominieren beginnen, hält die Natur immer noch herrliche Farbtupfer bereit. Sieht man sich bei einem Herbstspaziergang genauer um, fallen rote Hagebutten ins Auge, an anderer Stelle biegen sich die Äste unter der Last reifer Holunderbeeren. Viele wilde Früchte reifen jetzt heran und erfreuen Menschen und Vögel, darunter auch dunkelblaue Schlehen und orange leuchtender Sanddorn.
Für die Kräuterexpertin zeichnet sich vor allem der Holunder durch besondere Heilkraft aus. „Früher hat meine Oma immer Hollersaft gemacht“, erinnert sich Michaela Thöni-Kohler. „Das war unsere Vitaminbombe für den Winter.“ Holunderbeeren enthalten Flavonoide, Anthocyane, ätherische Öle und viel Vitamin C – gekocht als Saft, Gelee oder Hollerkoch stärken sie die Abwehrkräfte.

Rezept: Meisterwurztinktur
Die sauberen, klein geschnittenen Meisterwurz-Wurzeln in 38-prozentigem Alkohol ansetzen, 4 bis 8 Wochen an einem schattigen Ort ziehen lassen. Abfiltern und in einer dunklen Flasche verwahren. Bei Bedarf dreimal täglich 10 Tropfen einnehmen.
Kräuter: Naunitzen, Dornäpfel oder Pfroseln
In Tirol werden sie auch als Naunitzen, Dornäpfel oder Pfroseln bezeichnet, in Ostösterreich sind sie als Hetscherln bekannt: die Hagebutten. „Die Hagebutte zählt zu den vitaminreichsten Wildfrüchten unserer Breiten. Bereits 25 Gramm der frischen Frucht decken den Tagesbedarf eines Erwachsenen an Vitamin C – ein wertvoller Beitrag zur Stärkung des Immunsystems, gerade in der Übergangszeit zwischen Herbst und Winter. In ihr stecken auch Flavonoide, Fruchtsäuren und Gerbstoffe, die entzündungshemmend und kräftigend wirken“, führt die Kräuterexpertin aus.
Michaela Thöni-Kohler erntet die Hagebutten mit Bedacht. „Ich halbiere sie, trockne sie und gebe sie in kleine Papierteesäckchen“, erzählt sie. „So bleiben die feinen Härchen und Samen eingeschlossen – denn die können im Hals kratzen, wenn man sie nicht entfernt.“ Der daraus zubereitete Tee ist mild, fruchtig und wohltuend – ein guter Begleiter durch die kühle Jahreszeit. Wer mehr Zeit und Geduld mitbringt, kann aus den Hagebutten auch Marmelade oder Gelee herstellen. Doch das ist Handarbeit im besten Sinne: Die kleinen Früchte müssen entkernt, die feinen Härchen sorgfältig entfernt werden. „Es ist viel Arbeit“, sagt Thöni-Kohler, „aber es lohnt sich. Man schmeckt die Sonne des Sommers darin.“
Alles, was wir jetzt brauchen, wächst genau jetzt.
Die Hagebutte ist eine Frucht, die uns lehrt, genauer hinzusehen. Sie wächst nicht auf den ersten Blick auffällig, sie fordert Aufmerksamkeit – und schenkt dafür umso mehr. In ihrem Inneren trägt sie die Kraft des Sommers, konzentriert in einer kleinen, leuchtenden Frucht. Wer sie pflückt, tut gut daran, sich Zeit zu nehmen – für die Ernte, für die Verarbeitung und nicht zuletzt für den Genuss als Tee oder Marmelade.
Darüber hinaus lassen sich auch Vogelbeeren, Sanddorn und Schlehen zu Marmeladen oder Sirupen verarbeiten. „Die Natur hat das schon gerichtet für uns“, sagt sie. „Alles, was wir jetzt brauchen, wächst genau jetzt.“

Hustensirup
Zu gleichen Teilen Alantwurzeln, Isländisches Moos, Thymian, Salbei, Spitzwegerich und Fichtenwipfel in einen Kochtopf geben und mit Wasser gut bedecken. Wenn ein Kraut nicht zur Verfügung steht, ist das auch nicht schlimm. Einige Zitronenscheiben dazugeben. Das Ganze aufkochen und ca. 12 Minuten kochen lassen. Dann vom Herd nehmen und zugedeckt über Nacht stehen lassen. Das Wasser sollte sich nun weiß gefärbt haben. Alles abseihen und die Flüssigkeitsmenge abmessen. Die gleiche Menge Zucker hinzufügen und auf niedriger Stufe 2 bis 4 Stunden leicht köcheln lassen, bis die Masse eingedickt ist. Heiß in saubere Gläser abfüllen und gleich verschließen.
Heilsame Kräuter aus dem Garten
Doch nicht nur auf den Bergen, auch im eigenen Garten oder im Kräuterkisterl am Fenster wachsen Pflanzen, die für uns im Herbst besonders wertvoll sind. Salbei und Thymian etwa – oft nur als Küchenkräuter genutzt, sind sie wahre Heilpflanzen. „Salbei ist wunderbar bei Halskratzen – als Tee oder Gurgellösung. Thymian hilft, den Schleim zu lösen, wenn man schon erkältet ist.“ Beide Kräuter lassen sich gut trocknen und sind so den ganzen Winter über verfügbar. „Viele haben sie ohnehin im Garten oder in der Schublade – man muss sie nur bewusst verwenden.“
Erkältungsschutz mit Sonnenhut
Auch der Sonnenhut, Echinacea purpurea, ist ein Schatz aus dem Garten. „Viele haben ihn, weil er so schön blüht – aber kaum jemand weiß, wie stark er das Immunsystem unterstützt.“ Ein paar Blütenköpfe in Alkohol angesetzt ergeben eine wirksame Tinktur zur Vorbeugung gegen Erkältungen.
Herbst als als Einladung der Natur
Der Herbst ist mehr als eine Jahreszeit – er ist eine Einladung zum Loslassen, zum Rückzug, zur Dankbarkeit. Für Michaela Thöni-Kohler ist das gelebter Alltag. „Wenn man mit der Natur lebt, spürt man den Wandel ganz deutlich. Die Pflanzen ziehen sich zurück – und wir könnten das auch tun.“ Früher sei das selbstverständlich gewesen. Im Winter kehrte man ins Haus zurück, spann Wolle, kochte ein, erzählte Geschichten. Heute rauschen viele durch den Alltag – oft ohne wahrzunehmen, was um sie wächst. „Viele Menschen erkennen nicht einmal mehr die Bäume vor ihrer Haustür“, merkt Michaela Thöni-Kohler an. „Aber das Interesse kommt zurück. Die Leute spüren, dass sie wieder mehr Verbindung brauchen – zur Natur, zur Schöpfung, zu sich selbst.“ Vielleicht ist der Herbst ja genau die richtige Zeit, um wieder still zu werden, die Augen zu öffnen – und die Schätze der Schöpfung neu zu entdecken.

Buchtipp:
In ihrem Buch „Heilkräuter aus den Alpen“ verbindet Michaela Thöni-Kohler traditionelles Kräuterwissen mit persönlicher Erfahrung – mit Tipps für die praktische Anwendung. Mit vielen Rezepten für Speisen, Getränke, Salben und Einreibungen.
Michaela Thöni-Kohler
Heilkräuter aus den Alpen. Die Naturapotheke für Wohlbefinden und Genuss.
Tyrolia Verlag, 272 Seiten EUR 36,–
ISBN: 978-3-7022-4272-5