Auch Fratzen brauchen ihren Platz

Gedanken des Alten Steffl – Teil 7
Ausgabe Nr. 34
  • Wien und Niederösterreich
Autor:
Spuckende Speier – freche Fratzen  an der Außenfassade.
Spuckende Speier – freche Fratzen an der Außenfassade. ©Michael Gubi

Der Südturm, liebevoll Steffl genannt, gibt unserer Sommerserie den Titel. Freundlich grüßt er uns und die Menschen, die im Dom ein- und ausgehen. Im siebenten Teil unserer Serie folgen wir den steinernen Fratzen, die von den Mauern des Doms herabblicken – stumme Zeugen einer Zeit, in der das Unheil ein Gesicht bekam.

Im Laufe der Jahrhunderte musste ich einiges an Leid mitansehen. Immer wieder haben die Menschen Mut gefasst und diese mühsamen Zeiten unter großen Opfern bewältigt. Auf Zeiten des Krieges folgten Zeiten des Friedens. An diese schlimmen Erfahrungen erinnern in Wien Denkmäler, Gedenktafeln, Säulen und Kirchen. Die Bewohner dieser Stadt haben nach erfolgreicher Bewältigung dieser Krisen ihren Dank sozusagen in Stein gemeißelt. Und der Lateiner würde nun sagen: „Saxa loquuntur!“ – „Die Steine sprechen!“, sie erzählen die Geschichte dieser Stadt und erinnern uns Nachgeborene an längst vergangene schicksalhafte Tage und Wochen.

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Fratzen aus Stein

Aus Stein gehauen sind auch die Wasserspeier, diese fratzenhaften, oft dämonisch wirkenden Figuren, die das Regenwasser vom Kirchenbau wegspeien sollen. Neben ihrer praktischen Funktion des Ableitens von Regen haben sie aber noch eine andere Aufgabe, eine sogenannte apotropäische. Sie sollen das Unheil abwehren beziehungsweise abweisen. In diesen schrecklichen Mischwesen aus Tieren und Menschen mit den manchmal teuflischen Gesichtszügen werden jene Gedanken und Plagen dargestellt, die den Menschen des Mittelalters belastet haben. Es sind Gefahren des Alltags, medizinische oder psychische Probleme. Indem man sie darstellte, brach man ihre Gewalt. 

Die Macht der Fratzen

Es ist fast so wie in der Psychotherapie, wo man jene Dinge, die einen niederdrücken, gestalterisch ausdrückt: szenisch, bildnerisch, schriftlich. Wenn man sich am frühgotischen Chor von Sankt Stephan die große Schar der Wasserspeier genau anschaut, dann erkennt man, dass die Konsolen, die sie tragen, menschliche Gestalt haben. Da sind Mönche, Frauen und Männer, Gestalten des Mittelalters. Diese Menschen werden von der Last der Wasserspeier beinahe erdrückt. Alles Belastende ist hier dargestellt – allerdings außen am Dom. Hier haben diese schrecklichen Dinge ihren Platz. Sobald man aber die geweihte Schwelle des Domes unter den wachsamen Augen und der segnenden Hand des Pantokrators (Weltenrichters) übertritt, ist ihre Macht gebrochen.

Fratzen im Stephansdom

Im Inneren der Kirche, die ein Abbild des himmlischen Jerusalem und somit der Herrlichkeit des Himmels sein möchte, regieren nur die guten Kräfte. Anstelle der Wasserspeier stehen die Heiligen auf den mächtigen Domsäulen und wachen fürbittend über den Köpfen der Dombesucher. Sie begleiten den Menschen auf seinem Weg vom Westen, dem Symbol des Todes, Richtung Osten, dem Ort der Auferstehung. Symbole können uns zeichenhaft einen Weg weisen, eine Ahnung vermitteln von dem, worum es gehen kann. Man muss nur versuchen, sie zu sehen und zu lesen. Ein Besuch des altehrwürdigen Domes kann helfen, sich der eigenen Grenzen bewusst zu werden, Belastendes zu erkennen, aber dann gestärkt durch die christliche Hoffnung den je eigenen Weg im Bewusstsein der kommenden Herrlichkeit getrost weiter zu gehen.

Die christliche Hoffnung lässt sich ganz knapp so ausdrücken: „Es geht alles gut aus!“ Die Kraft und die Zuversicht dieser Worte mögen Sie tröstend begleiten. 

Buchcover Gedanken des Alten Steffl
©Domverlag

Seien Sie gegrüßt! - Teil 7/8

Gedanken aus 23 Jahren, vormals abgedruckt im Pfarrblatt der Dompfarre zu Sankt Stephan.

Können Steine sprechen? Der Alte Steffl kann! In der Serie „Und schaut der Steffl lächelnd auf uns nieder …!“ im Pfarrblatt von Sankt Stephan tut er seit über 20 Jahren seine Meinung kund: einmal augenzwinkernd und verschmitzt, einmal nachdenklich und mit Sorge, jedoch stets respektvoll und mit Herz.

Aus höherer Perspektive und mit seiner jahrhundertelangen Lebenserfahrung kommentiert der Steffl – wie der Südturm des Stephansdoms von den Wienern gerne auch bezeichnet wird – das aktuelle Geschehen auf dem Stephansplatz und in der Welt um ihn herum.

Wie die Gedanken des steinernen Zeugen konkret zu Worten werden, enthüllt Domarchivar Reinhard H. Gruber in seinem neuen Buch mit einem „Best-of“ der beliebten Beiträge.  Bereichert werden die Texte durch eindrucksvolle Fotos, die verborgene Details der Domkirche zeigen und ungewohnte Perspektiven eröffnen.

©Stefanie Grüssl – stefanie-kunst.at

Zum Autor:

Reinhard H. Gruber ist Domarchivar zu Sankt Stephan in Wien.

©Wiener Dom Verlag

Buchtipp:

Reinhard H. Gruber, Seien Sie gegrüßt! Gedanken des Alten Steffl, ISBN: 978-3-85351-336-1, 144 Seiten, EUR 30,00 erhältlich ab 23. 7. 2025 
 domverlag.at

Schlagwörter
Autor:
  • Domarchivar Reinhard H. Gruber
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