Hat Jesus im Gefängnis Platz?
Jonathan WernerSeit Sommer ist Jonathan Werner leitender Anstaltsseelsorger der Justizanstalt Josefstadt.
Herr Dr. Werner, für die meisten Menschen sind Gefängnisse unbekanntes Terrain. Wie ist es für Sie, dort zu arbeiten?
Wenn ich Menschen erzähle, was ich beruflich mache, sind sie oft ganz betroffen und wünschen mir viel Kraft für die herausfordernde Arbeit. Da muss ich schmunzeln. Als ich begonnen habe, war ich auch davon überrascht, dass im Gefängnis nicht die Hölle ist, dass man dort auch nicht auf das absolute Böse trifft. Ich erlebe das Gefängnis als echten Lebensraum. Das ist auch gut so, schließlich ist das Ziel des Strafvollzugs die Resozialisierung. Strafvollzug ist auf Zukunft ausgerichtet, genauso wie Gott: Der ist mit uns auch auf Zukunft ausgerichtet.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Ich höre Menschen zu, begleite sie, trinke viel Kaffee. (Lacht.) Konkret funktioniert das meist so: Wenn einer der Insassen ein Gespräch möchte, muss er darum ansuchen. Es ist also nicht so, wie sich das manche vorstellen, dass wir Seelsorger auf die Leute zugehen. Zu den Gesprächen kommen die Gottesdienste, die wir – eine Pastoralassistentin, drei Pastoralassistenten und ein Priester – feiern. In der Justizanstalt Josefstadt sind das täglich ein bis zwei.
Wird das Angebot von Seelsorge gut angenommen?
Grundsätzlich sind die Menschen sehr offen. Gerade die, die besonders schwere Straftaten begangen haben, empfinden Reue und haben sehr oft den Wunsch nach Vergebung und Versöhnung. Dazu kommt, dass Religion eine der letzten persönlichen Freiheiten im Strafvollzug ist, die man so gestalten kann, wie man will.
Was haben Sie selbst in den vergangenen acht Jahren als Gefängnisseelsorger über Gott gelernt?
Mir wird immer wieder bewusst, dass es nicht darum geht, zu fragen, wie man Gott gefallen kann. Gott stellt diese Frage nicht. Er wurde Mensch und stellt den Menschen in die Mitte. Was für mich außerdem deutlich geworden ist: Zu meinen, wir müssten Christus in das System Gefängnis bringen, ist der falsche Ansatz. Christus ist immer schon dort. In den Gesprächen mit den Menschen erlebe ich oft, dass sie eine tiefe Sehnsucht nach Gott haben, nach Halt. In der Seelsorge geht es darum, die Suche der Menschen nach Gott zu unterstützen, Gott entdecken zu helfen.
„Das Ziel des Strafvollzugs ist die Resozialisierung.
Strafvollzug ist auf Zukunft ausgerichtet, genauso wie Gott: Der ist mit uns auch auf
Zukunft ausgerichtet.“
Jonathan Werner
Ihnen liegt viel daran, den Menschen, der im Gefängnis vor Ihnen sitzt, von seiner Tat zu trennen. Was genau bedeutet das?
Wenn jemand straffällig geworden ist, bedeutet das nicht, dass er in seiner ganzen Existenz ein Straftäter ist. Ich achte zum Beispiel sehr darauf, nicht von jemandem als Mörder zu sprechen, sondern von einem Menschen, der einen Mord begangen hat. Mir hilft dieser Zugang auch im Alltag außerhalb des Gefängnisses: Unsere menschliche Realität ist von Gleichzeitigkeit geprägt. Wir können in einem Punkt etwas Böses tun, gleichzeitig in anderen Bereichen gut sein. Es ist zu kurz gedacht, zu meinen: Die im Gefängnis sind eingesperrt, also sind sie die Bösen; wir sind draußen, also sind wir gut.
Was sollen sich die Insassen, denen Sie seelsorglich begegnen, mitnehmen?
Ich wurde einmal um das Manuskript einer Predigt, die ich im Gefängnis gehalten habe, gebeten. Ich schreibe meine Predigten aber nie auf. Also habe ich die Insassen, die zu den Gottesdiensten kommen, gefragt, was bei Ihnen denn so hängen bleibt, wenn ich predige. Da haben sie mir gesagt: In jeder Predigt von dir kommt vor, dass wir vor Gott keine Angst haben müssen – das nehmen wir mit.
Das hat mich schon sehr gefreut.
Nähere Infos zur Gefangenenseelsorge unter: ▶ dersonntag.at/gefangenenseelsorge