Bürgerkrieg in Österreich

Februaraufstand 1934
Ausgabe Nr. 6
  • History
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Februar 1934: Verteilung von Waffen an Bundesheer
Februarkämpfe 1934: An die Bundesheersoldaten werden Waffen ausgegeben. ©Österreichische Nationalbibliothek
Februar 1934: Verhaftete Schutzbündler
Februarkämpfe 1934: Verhaftete Schutzbündler werden zum Polizeikommissariat Floridsdorf gebracht. ©Österreichische Nationalbibliothek
Februar 1934: Arbeiter mit Kerzen für Verstorbene
Februarkämpfe 1934: Arbeiter stellen brennende Kerzen in die Fenster, um der Toten zu gedenken. ©Österreichische Nationalbibliothek
Februar 1934: Einsegnung Kardinal Innitzer
Februarkämpfe 1934: Kardinal Theodor Innitzer nimmt die Einsegnung der Gefallenen der Exekutive vor. ©Österreichische Nationalbibliothek
Februar 1934: zerschossenes Arbeiterheim
Februarkämpfe 1934: Zerschossenes Arbeiterheim in Wien-Ottakring. ©Österreichische Nationalbibliothek

In Linz fallen Schüsse, ein Bürgerkrieg bricht aus - 12.02.1934. Helmut Wohnout deckt auf, was zu diesem dramatischen Moment führte. Ein Land, geteilt durch Konflikte, steht am Abgrund.

Wie war die politische Vorgeschichte in Österreich vor dem Februar 1934?

Helmut Wohnout: Ab dem Beginn der 1930er Jahre hat sich in Österreich die politische Situation mehr und mehr zugespitzt. Ein markantes Ereignis in diesem Zusammenhang waren die Landtagswahlen am 24. April 1932 in mehreren österreichischen Bundesländern, wo die Nationalsozialisten das erste Mal erdrutschartige Gewinne erzielt hatten. Diese Landtagswahlen, bei denen vor allem die Großdeutschen Stimmen einbüßten, haben dazu geführt, dass die fast zehn Jahre andauernde Zusammenarbeit zwischen Christlichsozialen und Großdeutschen auf Regierungsebene zu Ende gegangen ist. Die Großdeutschen haben die Koalition aufgekündigt. Und in dieser Situation hat in Österreich der bisherige Landwirtschaftsminister Engelbert Dollfuß eine neue, sehr fragile Regierung mit der zweiten deutschnationalen Partei, dem Landbund, und der parlamentarischen Fraktion der Heimwehr gebildet. Diese Regierung hat kaum über eine parlamentarische Mehrheit verfügt und ist von Anfang an auf tönernen Beinen gestanden.

Im Sommer 1932 hat sich das Verhältnis zur Sozialdemokratie noch deutlich verschlechtert. Der Anlass war die Beschlussfassung einer neuen Völkerbundanleihe, die notwendig war, um das wirtschaftliche Überleben des Landes einigermaßen zu sichern. Diese Völkerbundanleihe hat schon wie die früheren Völkerbundanleihen u. a. eine Erneuerung des Anschluss-Verzichtes an das Deutsche Reich enthalten. Dollfuß hatte gehofft, dass die Anleihe gemeinsam mit den Sozialdemokraten beschlossen werden könne. Doch diese Hoffnung hat sich zerschlagen. Otto Bauer, der führende Kopf der Sozialdemokratie, spekulierte mit einem raschen Zerbrechen der Regierung und bezog beim Ringen um die Lausanner Anleihe eine radikale Oppositionshaltung. Wider Erwarten ist es Dollfuß gelungen, die Anleihe im Parlament ganz knapp durchzubringen – eine Zäsur im Verhältnis zur Sozialdemokratie. Ab Herbst 1932 begannen die Christlichsozialen schrittweise mit autoritären Alternativen zur parlamentarischen Parteiendemokratie bisherigen Zuschnitts zu liebäugeln. In Deutschland amtieren zu diesem Zeitpunkt Präsidialregierungen, auch dort ist die Demokratie zur Disposition gestanden. Im Oktober 1932 kam es dann zur erstmaligen Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes durch Dollfuß. Ein an sich eher banaler Zwischenfall im Parlament, der zu einer Geschäftsordnungspanne geführt hat, nämlich der Rücktritt der drei Nationalratspräsidenten am 4. März 1933, hat der Regierung den Anlass geboten, eine Zeit lang, wie man damals gedacht hat, ohne Parlament, gestützt auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz zu regieren. Das war, wie sich später herausstellen sollte, die große Zäsur auf dem Weg zur autoritären Regierung in Österreich. Rückblickend gesehen, war es der Punkt, an dem die Abwendung von der Demokratie begonnen hat. Wenn man über diesen 4. März 1933 spricht, sollte man immer auch gleichzeitig die Ereignisse in Deutschland im Blick haben, was in Österreich vielleicht manchmal ein bisschen zu wenig geschehen ist.

Seit Ende Jänner 1933 war in Deutschland Adolf Hitler an der Macht und am 5. März 1933 hatten die letzten deutschen Reichstagswahlen stattgefunden, bei denen die NSDAP mehr als 43 Prozent der Stimmen erreicht und gemeinsam mit ihren Koalitionspartnern über eine absolute Mehrheit verfügt hatte. Unmittelbar danach erfolgte die Gleichschaltung der deutschen Landesregierungen durch eine Mischung aus Terror auf der Straße und Druck von oben. Mit dieser Methode hat Hitler beabsichtigt, seine Macht im nächsten Schritt auf Österreich auszudehnen. Der Rücktritt der Regierung Dollfuß wurde genauso ultimativ verlangt, wie die Berufung von Nationalsozialisten in eine Übergangsregierung und rasche Neuwahlen. Diesen Forderungen der Nationalsozialisten hat sich die Regierung entgegengestellt und begonnen, ohne Parlament, gestützt auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz, weiter zu regieren. So hat die Entwicklung sehr rasch eine Eigendynamik angenommen und ist mehr und mehr zu einer diktatorischen Lawine angeschwollen. Es kam zum Verbot des Republikanischen Schutzbundes, genauso zum Verbot der Kommunistischen Partei. Nach einer Terrorwelle der Nationalsozialisten im Juni 1933 ist auch die NSDAP verboten worden. Die Regierung ist von der demokratischen Grundordnung schrittweise abgerückt. Die Lahmlegung des Verfassungsgerichtshofes im Juni 1933 war in diesem Zusammenhang eine einschneidende Maßnahme. Hitler hat versucht, zusätzlich zum Terror durch die sogenannte 1000-Mark-Sperre auch wirtschaftlich Druck auf Österreich auszuüben und damit dem gerade aufblühenden deutschen Tourismus nach Österreich ein jähes Ende zu bereiten. Außenpolitisch hat Dollfuß ausschließlich beim Italien Mussolinis Rückhalt gefunden. Mussolini wiederum hat diese Unterstützung Österreichs ab dem August 1933 sehr klar mit der Verbannung der ihm verhassten Sozialdemokratie aus dem politischen Leben verknüpft. Als Dollfuß dann seine berühmte Trabrennplatzrede im September 1933 am Rande des Katholikentags gehalten und die Aufrichtung eines neuen, auf ständischen Prinzipien beruhenden Staates in Aussicht gestellt hat, hatte er sich eigentlich schon von der Rückkehr zur Demokratie, wie sie bis zum März 1933 bestanden hat, verabschiedet. Man ist geraden Weges in eine autoritäre Herrschaft gegangen. Die Entwicklung hat ab diesem Zeitpunkt eine irreversible Dynamik angenommen.

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Was war dann der unmittelbare Auslöser für den Bürgerkrieg im Februar 1934?

Vor dem bereits geschilderten Hintergrund ist es am Morgen des 12. Februar 1934 zum Ausbruch des sogenannten Februaraufstandes gekommen. Eine Waffensuche der Polizei im Linzer „Hotel Schiff“ hat den Funken zum Überspringen gebracht: Schutzbund-Angehörige haben auf die Polizei das Feuer eröffnet. Es ist letztlich spekulativ, ob die von der Exekutive durchgeführte Aktion bewusst Gewalt provozieren sollte oder ob eine überschießende Reaktion der Schutzbund-Angehörigen in Linz die unglückliche Kettereaktion in Gang gesetzt hat. Otto Bauer hat, obwohl ihm von Anfang an klar war, dass der Aufstand zu keinem Erfolg führen wird, zugestimmt, dass in ganz Österreich der Schutzbund mobilisiert wird.  Ab dem Mittag des 12. Februar ist es in Wien sowie in anderen Orten zu bewaffneten Kämpfen gekommen. Der Plan der Sozialdemokratie für einen solchen Aufstand ist sehr rasch implodiert. Der ausgerufene Generalstreik hat sich nicht verwirklichen lassen: Sehr bald waren die sozialdemokratischen Widerstandszentren isoliert und ohne Verbindung untereinander. Man muss sagen, dass auch die Regierung vom Ausbruch der Kämpfe überrascht worden ist. Und sie hat wohl die nach den Monaten der Illegalität in Wahrheit schon geschwächten Kräfte des Schutzbundes überschätzt und auf diesen Aufstand mit großer Härte reagiert. Es wurden die Exekutive, die regierungsnahen bewaffneten Wehrverbände und das Bundesheer gegen den Schutzbund eingesetzt. Die Kämpfe haben insgesamt 356 Todesopfer gefordert. Von den gefassten Rädelsführern wurden in standrechtlichen Verfahren 21 zum Tode verurteilt. Neun dieser Urteile sind standrechtlich vollstreckt worden.
 

Wie sind diese Ereignisse des Februar 1934 aus Sicht des Historikers zu bewerten?

Der latente Konflikt zwischen den weltanschaulichen Lagern ist im Februar 1934 im großen Stil in Gewalt umgeschlagen. Es ist Blut geflossen und zahlreiche Menschenleben waren zu beklagen. Dies war eine dramatische Zäsur in der jüngeren österreichischen Geschichte. Und es ist wohl auch nicht zu viel gesagt, dass die vollstreckten, Todesurteile die Verbitterung der damals unterlegenen Sozialdemokratie noch zusätzlich verstärkt haben.

Wie lautet eigentlich die zutreffende Bezeichnung für das Staatsgebilde in Österreich zwischen 1933 und 1938? Die einen sprechen vom „Christlichen Ständestaat“, andere von einem „nach christlichen Grundsätzen geleiteten Staatswesen“. Die Regierung Dollfuß selbst sprach vom „Bundestaat Österreich“.

Die historische Bewertung der Jahre 1933 bis 1938 ist nach wie vor auch in der Zeitgeschichtsforschung umstritten wie keine andere Periode in der Geschichte unseres Landes. Die Frage stellt sich: Hat das Regime der Kanzler Dollfuß und Schuschnigg in diesen Jahren bereits eine faschistische Herrschaft begründet, die 1938 nur durch eine andere, noch viel brutalere Form des deutschen Faschismus in Gestalt des Nationalsozialismus ersetzt worden ist? Das wäre in etwa die Argumentation jener, die den Begriff des „Austrofaschismus“ für diese Jahre verwenden. Dem ist lange Zeit der Begriff des „Christlichen Ständestaates“ als eine Bezeichnung für diese Periode gegenübergestanden. Ich selbst habe in meinen wissenschaftlichen Arbeiten den Begriff der „Kanzlerdiktatur“ geprägt. Es steht außer Streit, dass es eine autoritäre Herrschaft war, die nach dem 5. März 1933 schrittweise begründet worden ist und die mit der In-Kraft-Setzung der Verfassung vom Mai 1934 inklusive der dann folgenden Übergangsbestimmungen endgültig etabliert wurde. Innerhalb dieses Machtdiagramms des autoritären Österreich sind in der Realverfassung so gut wie alle Kompetenzen beim Bundeskanzler zusammengelaufen, der eine ungeheuer dominante Stellung innerhalb dieses Regierungssystems eingenommen hat. Deshalb glaube ich, dass der Begriff der „Kanzlerdiktatur“ für die Charakterisierung des Systems zutreffend ist. Der Begriff eines „Christlichen Ständestaates“ lässt sich kaum mehr aufrechterhalten. Es gab programmatisch zu wenig Voraussetzungen für ein solches Konzept. Und der Versuch der Umsetzung ist bereits in den Anfängen steckengeblieben. Das autoritäre und diktatorische Moment der Herrschaft hat von Anfang an überwogen.  Zugleich denke ich, dass der Begriff des „Austrofaschismus“ kein zutreffender für die Charakterisierung des politischen Systems zwischen 1933 und 1938 ist. Denn es gab doch ganz wesentliche Unterschiede sowohl zum faschistischen Italien als auch zum nationalsozialistischen Deutschland. Viele Kriterien des Faschismus-Begriffes in wissenschaftlicher Hinsicht treffen nicht zu: Der Mythos einer politischen Religion und der damit einhergehende rassentheoretische Ansatz des Systems waren in Österreich nicht vorhanden. Es gab auch keine durchgehende Identität zwischen dem Volk, einer Einheitspartei und der Staatsführung. Es hat auch keine aggressive Außenpolitik gegenüber den Nachbarn gegeben und auch keine Verherrlichung der Gewalt als Ziel und Mittel der Politik.

Helmut Wohnout

Helmut Wohnout

Helmut Wohnout, der 1964 in Wien zur Welt kam, absolvierte sein Geschichtsstudium an der Universität Wien. Nach Abschluss seiner Doktorarbeit setzte er seine akademische Laufbahn mit einem Postgraduierten-Studium bzw. einem Forschungsaufenthalt an der Georgetown-University in Washington, D.C., fort. Ab dem Jahr 1992 begann er seine berufliche Karriere im österreichischen Parlament und wechselte im Jahr 2000 ins Bundeskanzleramt. Seit November 2019 bekleidet er die Position des Generaldirektors des Österreichischen Staatsarchivs. Wohnout hat sich durch eine intensive wissenschaftliche Tätigkeit in Forschung, Lehre, Projektarbeit und Publikationen hervorgetan, wobei er 2011 an der Universität Graz habilitierte. Seine Forschungsinteressen decken ein breites Spektrum ab, darunter die österreichische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, europäische Kulturgeschichte, die Geschichte von Parteien und Institutionen, die österreichische Verfassungsgeschichte, Themen zu Widerstand und Verfolgung, Antisemitismus und Restitution. Zwischen 1993 und 2019 leitete er als Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter das Karl von Vogelsang-Institut.

Hat die Idee eines christlichen Ständestaats den totalitären faschistischen Staat gleichsam verhindert?

Ich glaube, dass diesem totalen Anspruch des Staates auf den Menschen die ausdrückliche Berufung auf christliche Grundprinzipien in Österreich zuwider läuft. Allein schon aus dem religiösen Transzendenzbezug ergibt sich eine deutliche Grenze, die der Politik Dollfuß‘ und Schuschniggs gezogen war. Das Festhalten an den katholischen Wurzeln war sicher einer jener Faktoren, der das Abgleiten in einen totalitären Staat in Österreich vor 1938 verhindert hat. Ich will das an einem Beispiel festmachen: der Zugriff der Faschisten in Italien und der Nationalsozialisten in Deutschland auf die Erziehung der Jugendlichen. Es hat zu keinem Zeitpunkt den Anspruch des autoritären Österreich auf den exklusiven und totalen Einfluss bei der Erziehung der Jugend gegeben. Das etwa hat Österreich in der Praxis ganz deutlich vom faschistischen Italien oder dem nationalsozialistischen Deutschland unterschieden.

Stichwort „Religiöse Wurzeln“: Hat die Regierung Dollfuß die päpstliche Enzyklika „Quadragesimo anno“ aus dem Jahr 1931 richtig verstanden oder nicht?

Was sagt eigentlich die Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ über den berufsständischen Aufbau eines Staates? Diese Enzyklika ist 1931 veröffentlicht worden und erinnert, wie der Name sagt, an den 40. Jahrestag des Erscheinens der ersten Sozialenzyklika von Leo XIII., Rerum novarum (1891). „Quadragesimo anno“ versucht, die soziale Frage aus Sicht der Kirche weiterzuentwickeln. Jetzt muss man relativ lange suchen, um in dieser Enzyklika überhaupt Verweise auf eine berufsständische Ordnung zu finden. Es gibt nur ganz wenige Paragraphen, in denen in einer allgemeinen und grundsätzlichen Form das Thema einer berufsständischen Ordnung von Gesellschaft und Wirtschaft behandelt wird, gerade auch im Zusammenhang mit der Verurteilung des Klassenkampfes. Dort ist von einem Zusammenschluss von berufsständischen Körperschaften insoweit die Rede, als angeregt wird, dass Angehörige des gleichen Berufs zu Zwecken, die mit ihrer Berufsausübung in Zusammenhang stehen, freie Vereinigungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bilden. Diese sollten ein mögliches Gegenkonzept zum Klassenkampf darstellen. Konkrete Hinweise für eine Umsetzung im staatlichen Bereich wird man in der Enzyklika vergeblich suchen. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie als angebliche oder vermeintliche Grundlegung für die berufsständischen Konzepte im katholischen Österreich herangezogen wurde. Das hat wohl damit zu tun, dass diese Enzyklika Ignaz Seipel in seinen letzten Lebensjahren als Rechtfertigung gedient hat, um seine ab 1927 immer stärker formulierte latente Kritik am bisherigen parlamentarisch repräsentativen System zu begründen. Es ist in Wahrheit in Österreich zu einer Verengung dieses päpstlichen Rundschreibens gekommen, die sowohl in Kreisen des politischen Katholizismus als auch innerhalb von kirchlichen Kreisen unwidersprochen geblieben ist. In Deutschland sahen die katholischen Sozialethiker wie Oswald von Nell-Breuning die Enzyklika völlig anders und lehnten es ab, aus ihr die Legitimation für einen Ständestaat abzuleiten.

Warum war das sogenannte „Rote Wien“ gleichsam ein rotes Tuch für die Regierung Dollfuß? Welche Rolle spielten dabei die austromarxistischen Wurzeln der Sozialdemokratie?

Da wird man weit in die Erste Republik zurückgehen müssen. Nach der Gründung der Republik 1918 haben im ersten Wahlkampf zur Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung 1919 die Sozialdemokraten genauso wie die Deutschnationalen sehr stark laizistische und antiklerikale Programmpunkte eingebracht. Es kam damals zu den sehr weitgehenden Forderungen nach einer Trennung von Kirche und Staat. Die katholische Kirche hatte seit der Monarchie eine starke und privilegierte Stellung innegehabt und versuchte natürlich, diese Positionen in die Republik hinüberzuretten. Eine der frühen und ersten wirklichen Verwerfungen zwischen Kirche und Sozialdemokratie war 1919 der sogenannte „Glöckel-Erlass“, benannt nach dem sozialdemokratischen Unterrichtsstaatssekretär Otto Glöckel, mit dem der obligatorische Religionsunterricht aufgehoben wurde. Die Frage des Religionsunterrichts wurde ein Schlüsselthema des Kulturkampfes, der damals begonnen und sich durch die ganze Erste Republik gezogen hat. Die Sozialdemokratie hat Positionen gegenüber der Kirche bezogen, die eindeutig auf einen offenen Konflikt hinausgelaufen sind. Ich erinnere etwa an die Kirchenaustritts-Kampagnen, die die Sozialdemokratie zwei Mal im großen Stil ausgerollt hatte. Demgegenüber hatten die Christlichsozialen einen sehr rigiden politischen Katholizismus vertreten und fungierten nach dem Ende der Monarchie anstelle des kaiserlichen Throns als Sachwalter der Anliegen der Kirche. Es waren die großen Fragen des Unterrichtswesens, des Eherechts und auch die sogenannte Kongrua-Frage, also die Frage der Entlohnung von Priestern, die zu den Konfliktthemen dieses Kulturkampfes zwischen Kirche und Sozialdemokratie geworden sind.

Das von Ihnen angesprochene sogenannte „Rote Wien“, also das sozialdemokratisch regierte Wien, war so etwas wie der sozialdemokratische Gegenentwurf zur bürgerlichen Politik auf Bundesebene. Ein Gegenentwurf, der, durchaus gewollt, teils sehr weit in die Lebensbereiche der Menschen eingegriffen hat und der in weiten bürgerlichen Kreisen auf strikte Ablehnung gestoßen ist.

Nun gab es auch in den 1920er- und 1930er-Jahren Priester-Politiker. Warum hat die Bischofskonferenz trotzdem am 30. November 1933 beschlossen, dass sich die katholischen Geistlichen aus der aktiven Parteipolitik zurückziehen müssen?

Das Verhältnis der Christlichsozialen Partei war schon in der ausgehenden Monarchie sehr eng mit dem Vereinskatholizismus verwoben, die Vorfeldorganisationen zwischen Christlichsozialer Partei und katholischer Kirche waren sehr oft überlappend gewesen. Ich denke da etwa an den Katholischen Volksbund oder andere Strukturen, die beiden als Vorfeldorganisationen gedient haben. In vielen Fällen waren dort Priester intellektuelle Vordenker und Vorreiter und sind dann auch in die Politik eingestiegen. In der Ersten Republik war Ignaz Seipel der wohl bekannteste dieser Gruppe von Priester-Politikern. Seipel hat eigentlich eine akademische Laufbahn eingeschlagen. Er war Professor in Salzburg und wechselte 1917 an die Universität Wien. In den Umbruchstagen 1918 wurde er von Kaiser Karl in dessen letzte Regierung berufen. So wurde Seipel zu einem politischen Quereinsteiger bei den Christlichsozialen.

Blutiger Februar

In Form eines Romans hat die in Mainz (Deutschland) geborene Schriftstellerin Anna Seghers (1900–1983) die Dramatik des Februar 1934 anhand von Menschenschicksalen an Orten wie Wien, Linz, Graz und Steyr beschrieben. Die überzeugte Kommunistin Seghers war später u. a. von 1952 bis 1978 Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. 


Anna Seghers, Der Weg durch den Februar, Marsyas Verlag, 276 Seiten, ISBN: 978-3-903469-07-5


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Ich komme zurück auf die austromarxistischen Wurzeln der Sozialdemokratie, nachdem das Liebäugeln mit dem Marxismus in Österreich wieder salonfähig geworden ist: Hat die Regierung Dollfuß die Auswirkungen der antiklerikalen Entwicklungen in Russland seit 1917 und später in Bayern und Ungarn gefürchtet? Hatte sie also quasi Angst vor einer Revolution?

Ja, eine solche Angst vor einer Revolution war im bürgerlichen Lager durchaus vorhanden. Sie wurde auch dadurch verstärkt, dass die Sozialdemokratie gerade in ihrer Rhetorik oft radikaler war als in ihren tatsächlich gesetzten politischen Taten.

Am 21. Dezember 1933 lobten die österreichischen Bischöfe in einem gemeinsamen Weihnachtshirtenbrief die Regierung Dollfuß, „ein nach christlichen Grundsätzen geleitete Staatswesen errichten“ zu wollen. Warum taten dies die Bischöfe?

Ich denke, dass dieser Weihnachtshirtenbrief vom Dezember 1933 im Zusammenhang zu sehen ist mit der kurze Zeit zuvor erfolgten Zurückziehung der Geistlichen aus der Politik. Am 30. November 1933 hat die Bischofskonferenz den Beschluss gefasst, dass die als Abgeordnete in den demokratisch gewählten Körperschaften auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene tätigen Priester ihre Mandate niederlegen müssen. Diese Entscheidung hatte damals zu missverständlichen Interpretationen geführt und in der Öffentlichkeit wurde mancherorts damit spekuliert, ob das nicht auch bedeute, dass die Bischöfe auf Distanz zur Regierung Dollfuß gingen. Das war eindeutig nicht der Fall. Auch die vatikanische Diplomatie hatte die Regierung Dollfuß und den von ihr eingeschlagenen Weg unterstützt. Im von Ihnen angesprochenen Weihnachtshirtenbrief vom 21. Dezember 1933 wurde klar festgehalten, dass die Regierung Dollfuß der beste Garant für die Aufrechterhaltung der religiösen Interessen der Kirche ist. Zugleich ist es mit diesem Weihnachtshirtenbrief zu einer klaren Verurteilung des Nationalsozialismus und seiner Weltanschauung gekommen.

Welche Schritte setzten die katholische Kirche und die Politik nach 1945? Kann man da von einem Lernprozess sprechen?

Die Jahre zwischen 1938 und 1945, aber auch schon die Jahre vor 1938, haben dazu geführt, dass sowohl die katholische Kirche in Österreich als auch die im April 1945 entstandene Österreichische Volkspartei die Lehren aus dieser Zeit gezogen haben. Die katholische Kirche wollte sich nicht mehr exklusiv an eine einzige politische Partei binden. Und auch die bereits in der Illegalität vorbereitete Österreichische Volkspartei hat sich schon in ihren ersten konzeptionellen Plänen nicht mehr als eine ausschließlich konfessionell auf das katholische Österreich ausgerichtete Partei gesehen. Man wollte nun einen politischen Neubeginn unter anderen Prämissen als jenen der früheren Christlichsozialen Partei setzen. Diese Österreichische Volkspartei wurde 1945 als eine breite bürgerliche Sammelbewegung mit einem klaren Bekenntnis zu christlichen Wertvorstellungen gegründet. Auch die Sozialdemokratie nahm den Antiklerikalismus der Zwischenkriegszeit nicht wieder auf und fand im Laufe der Zeit zu einer gemeinsamen Dialogbasis mit den Bischöfen. Vielleicht lässt sich diese Entwicklung nach 1945 am besten mit einem Zitat von Kardinal Franz König zusammenfassen. Er definierte in den 1980er-Jahren das Verhältnis der Parteien zur Kirche folgendermaßen: „Es sind die Parteien selbst, die durch ihre Programme, ihre Praxis und die Auswahl ihrer handelnden Personen Nähe oder Ferne zur Kirche ausdrücken.“ Der missverständliche Begriff der „Äquidistanz“ der Kirche zu den Parteien ist nicht die richtige Beschreibung des Verhältnisses zwischen Kirche und Politik. Es liegt an den Parteien und ihrem Handeln, wie weit sie mit den Grundsätzen der Kirche übereinstimmen.

Autor:
  • Stefan Kronthaler
  • Stefan Hauser

Helmut Wohnout über die Ereignisse des Februar 1934 aus Sicht des Historikers

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