Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen

Mehr als eine Power-Nonne
Ausgabe Nr. 9
  • Theologie
Autor:
Hildegard von Bingen
Kirchenlehrerin seit 2012: Hildegard von Bingen (Hildegardisaltar, Bingen). ©Michael Teller/akg-images/picturedesk.com
Benediktinerin und Hildegard von Bingen-Expertin
Sr. Dr. Maura Zátonyi OSB ist Benediktinerin der Abtei St. Hildegard in Eibingen. ©Abtei St. Hildegard

Schwester Maura Zátonyi, eine Kennerin des Werkes der Hildegard von Bingen, erläutert die Bedeutung dieser deutschen Benediktinerin, die sich als Äbtissin, Dichterin, Komponistin und Mystikerin mit Religion, Medizin, Musik, Ethik und Kosmologie auseinandersetzte.

Hildegard wird meistens als eine starke Frau, als eine Power-Nonne dargestellt, die mit außergewöhnlicher Größe in ihrer Zeit herausragt“, sagt Sr. Maura Zátonyi, Benediktinerin der Abtei St. Hildegard in Eibingen. „Mich fasziniert dagegen, dass sie sich selbst als eine schwache, von Unsicherheiten und Krankheiten heimgesuchte Frau erfahren hat“, erklärt sie. Hildegard von Bingen  habe sich „mit dem kaum übersetzbaren Wort ,paupercula‘ – etwa ,eine kleine Arme‘ – bezeichnet“. Sr. Maura: „Diese Selbstdarstellung zu verstehen hilft ihre Vision, in der sie die ,Armut im Geiste‘ (,paupertas‘) in der Gestalt eines kleinen, unscheinbaren Mädchens erblickt. Das Haupt dieses Mädchens ist aber mit Licht erfüllt. Ich finde, das ist wie Hildegards Selbstporträt. Sie nimmt ihre Armut, ihre Schwachheit an, um frei und empfänglich zu sein für eine viel größere Begabung, für eine alles Erdenkliche überragende Erfüllung.“ Hildegard von Bingen gewinne damit „tiefe Weisheit, die auch psychologisches Feingefühl beinhaltet, das mich in ihren Werken immer wieder erstaunt. Darüber hinaus finde ich sehr sympathisch, dass Hildegard freundschaftliche Beziehungen pflegte, also dass sie keineswegs eine einsame Größe ist, sondern Menschen in herzlicher Verbundenheit zugeneigt“, betont Sr. Maura.

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Was ist das spezifisch Benediktinische an Hildegard?

MAURA ZÁTONYI: Das kann mit einem Wort ausgedrückt werden: „discretio“. Ein Wort, das mit „weise Maßhaltung“, „Unterscheidungskraft“ übersetzt werden kann, dessen Dimensionen Hildegard jedoch mit unterschiedlichen Bildern erklärt. Discretio heißt, die Mitte zu finden. Das bedeutet aber keine Mittelmäßigkeit, sondern die Lebensaufgabe, zum Kern der eigenen Person zu gelangen. Hildegard begründet die „discretio“ christologisch: Das Maß, an dem wir uns zu orientieren haben, und die Mitte, wo wir unsere Bestimmung empfangen, ist Jesus Christus.

Warum ist Hildegard, wie Sie in Ihrem „Hildegard-Lesebuch“ schreiben, eine „visionäre Theologin, begnadete Nonne und furchtlose Politikerin“?  

In der Zeit Hildegards, im 12. Jahrhundert, kam ein neuer Trend auf, theologische Inhalte mit Hilfe der Dialektik, einer an Aristoteles entwickelten Methode der Argumentation, zu erklären. Hildegard dagegen entfaltete eine Theologie in visionären Bildern. Es war damals eben nicht modern, heute dagegen – dank der philosophischen Leistung etwa eines Paul Ricoeur – entdecken wir den Wert von Bildern in Bezug auf Erkenntnisprozesse und Wahrheitsfindung. Statt theologische Sachverhalte auf einen Begriff zu bringen, bietet Hildegard eine Fülle von visionären Bildern, um Zugang zu der göttlichen Wahrheit zu ermöglichen. Sie war zudem eine begnadete Nonne, weil sie ganz und gar aus ihrer Gottesbeziehung gelebt hat. Und sie war eine furchtlose Politikerin, weil sie ohne Angst auf die Missstände in Kirche und auch Politik hingewiesen hat. Sie war zutiefst durchdrungen von Gottesfurcht – übrigens eine biblische und zugleich benediktinische Haltung – und ihr Beispiel zeigt offenkundig: Wer Gott fürchtet, braucht keine Angst vor Menschen zu haben.
 

Die Briefe Hildegards zeugen von ihrem Netzwerk.

Maura Zátonyi

Welche Bedeutung haben die theologischen Schriften der heiligen Hildegard?

Hildegard entwirft in ihren Werken eine heilsgeschichtliche Welt- und Daseinsdeutung. Der Titel ihres ersten Werkes „Scivias“ drückt dies programmatisch aus. Scivias wird mit „Wisse die Wege“ übersetzt, es bedeutet jedoch „Wegweisung“. In Hildegards theologischen Schriften geht es darum, die Wege Gottes zu zeigen, und dies im zweifachen Sinn: die Wege, die Gott zu uns geht, und die Wege, die der Mensch zu Gott geht. Hildegards großartige Botschaft besteht darin, dass sie uns zu verstehen gibt, dass wir unsere Wege zu Gott gehen können, weil Gott schon immer unterwegs zu uns ist: in der Schöpfung, in der Geschichte, in der Kirche, in den Sakramenten. Und auf diesen Wegen Gottes können auch wir zu Gott Zugang finden. Unter all diesen Wegen ist die Menschwerdung Gottes, die Inkarnation, jener Weg, in dem sich die unbegreifliche Liebe Gottes zu uns auf eine unüberbietbare Weise offenbart. 
 

Hildegard begab sich auch auf „Predigtreisen“. Durfte sie als Frau damals predigen? Was darf man sich unter einer „Predigtreise“ vorstellen?

Wenn man über Hildegard spricht, dann kommen ihre „vier Predigtreisen“ in der Tat meistens zur Sprache, weil es so ungewöhnlich klingt. Wir müssen diese sogenannten Predigtreisen in Kontext einordnen. Es sind zunächst zwei Reisen historisch nachweisbar, der Historiker Tilo Altenburg hat sich damit in seiner Dissertation beschäftigt. Die Predigten Hildegards sollten wir uns nicht in unserem heutigen Sinn vorstellen. Es geht eher um Ansprachen vor geistlichen Gemeinschaften, meistens in kleinerem Kreis. Einige dieser Predigten hat Hildegard auch schriftlich in ihren Briefen festgehalten. Berühmt geworden ist ihr Brief an den Kölner Klerus, auch heute ein lesenswerter Text.
 

... und die Briefe der heiligen Hildegard?

Die Briefe Hildegards zeugen von ihrem ausgedehnten Netzwerk. Sie stand in Briefkontakt mit den Mächtigen ihrer Zeit, sie schrieb Briefe an Päpste, Könige, an Kaiser Barbarossa, Erzbischöfe, Äbte – und sie erhielt auch Briefe von zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten. Es ist jedoch interessant, dass sich unter ihren Briefpartnern zahlreiche Frauen befinden: Königinnen, Gräfinnen und eine Reihe Äbtissinnen. Diese Erkenntnis differenziert das Bild einer oft geäußerten Meinung, Hildegard hätte sich in einer männerdominierten Welt durchgesetzt. Ihre Korrespondenz zeigt sie in Interaktion mit Frauen, die in Führungsposition Verantwortung trugen! Meistens geht es in diesen Briefwechseln um die Frage, wie man mit Herausforderungen in Leitung umgeht, also um Führungsqualität. Und das sind eben Frauen, die in der Kirche selbstbewusst, qualifiziert und engagiert ihre Fähigkeiten entfaltet haben. 
 

Benedikt XVI. würdigte Hildegard als Zeugin der Neuevangelisierung.

Maura Zátonyi

Wie sind die „Visionen“ der Heiligen zu verstehen?

Hildegard hat nachdrücklich betont, dass sie ihre Visionen im wachen Zustand, bei vollem Bewusstsein empfangen hat, also ohne Ekstase. Nach ihrem eigenen Zeugnis zielen ihre Visionen auf die Sinnerschließung – „intellectus“ – der Heiligen Schrift, auf das Verstehen der biblischen Heilsbotschaft. Gott will, dass wir alle glücklich werden, biblisch gesprochen: das Heil erlangen. Dazu hat er uns in der Heiligen Schrift seine Frohe Botschaft geoffenbart. Demzufolge handelt es sich um eine existenzielle Angelegenheit, dass wir die Heilige Schrift verstehen. Mit ihren vielfältigen Visionsbildern führt uns Hildegard zu tieferen Einsichten („intellectus“) der Heiligen Schrift, die Visionen führen uns immer tiefer in das Geheimnis Gottes hinein, in dem der Mensch sein wahres Glück finden kann.
 

Was sprach dafür, dass Papst Benedikt XVI. Hildegard von Bingen 2012 zur Kirchenlehrerin erhob?  

Hildegard gehörte lange Zeit nicht zu den klassischen Schultheologen. Papst Benedikt XVI. hat aber schon in den 1990er-Jahren, damals noch als Präfekt der Glaubenskongregation, die „kühne Universalität“ Hildegards erkannt. Er hat darauf hingewiesen, dass Hildegard dadurch, dass sie aus dem Geheimnis Gottes lebte, fähig war, „das rechte Wort furchtlos und frei zu sagen“, und Joseph Ratzinger war schon damals überzeugt, dass Hildegard auch in der aktuellen Krise des Menschenbildes Wesentliches zu sagen hat. Er bedauerte zugleich, dass es ihm aus Zeitgründen verwehrt war, sich eingehender mit der Theologie Hildegards zu beschäftigen. Als Papst hat er aber mit der offiziellen Heiligsprechung Hildegards und ihrer Erhebung zur Kirchenlehrerin alles überboten, was er als Professor durch wissenschaftliche Studien hätte leisten können. In seinem Apostolischen Schreiben vom 7. Oktober 2012 würdigt er die hl. Hildegard als „glaubwürdige Zeugin der Neuevangelisierung“.
 

Warum boomt heutzutage die sogenannte „Hildegard-Medizin“?

Hildegard musste schon zu jeder Zeit als Projektionsfläche herhalten – im Mittelalter als Apokalyptikerin, in der Frühen Neuzeit als Mystikerin und im 20./21. Jahrhundert als Heilkundige. Diese Bezeichnungen stammen alle aus einer verkürzten Sicht auf ihre Person. Was die Hildegard-Medizin betrifft: Jeder Mensch möchte glücklich, heil werden. Heute neigen wir dazu, schnell zu diesem Gesund-Werden gelangen zu wollen. Hildegard dagegen sieht den Menschen ganzheitlich, in seiner Einheit von Geist, Seele und Leib. Gesund kann der Mensch ihr zufolge sein, wenn er zu Gott, seinem Schöpfer findet und sein eigenes geschöpfliches Dasein annimmt sowie den ihm zugedachten Lebensauftrag – sein persönliches Dasein – erfüllt. 
 

Schlagwörter
Autor:
  • Stefan Kronthaler
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