Wie leben Christen in Jerusalem?

Abt Nikodemus Schnabel
Ausgabe Nr. 37
  • Weltkirche
Autor:
©Nikodemus Schnabel, Abt der Benediktinerabtei Dormitio
Abt Nikodemus Schnabel ist ein „Stadtmönch“. Die Jerusalemer Dormitio-Abtei liegt, wie das Wiener Schottenstift, mitten in einer Großstadt – kein gewöhnlicher Ort für ein Benediktinerkloster. ©Stephan Schönlaub

Christen in Jerusalem: Zwischen Feindseligkeit und Unterstützung - Abt Nikodemus Schnabel berichtet, wie Politiker Religion missbrauchen. Erfahren Sie mehr über die versteckte Dynamik hinter den Konflikten in der Heiligen Stadt.

Christinnen und Christen werden in Jerusalem teils offen angefeindet, teils offen unterstützt. Die Religionen sind dabei nicht das Problem, meint Nikodemus Schnabel. Politiker würden die Religionen missbrauchen, um ihre schwache Politik zu kaschieren. Das sagt der 44-jährige Abt der bekannten Dormitio-Abtei am Berg Zion in Jerusalem und des dazugehörigen Priorats Tabgha am See Gennesaret. Im Interview erzählt er von einer diversen Gesellschaft und den Konflikten in Israel und in der Heiligen Stadt der Juden, Christen und Moslems und warum er sich weigert, im öffentlichen Raum sein Brustkreuz abzulegen.

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Wir haben vor einigen Wochen die Nachricht von Ihnen gelesen: „Ich werde jeden Tag angespuckt.“ Wir können uns das fast nicht vorstellen. Ist das wirklich so?

ABT NIKODEMUS SCHNABEL: Ja, es ist leider wirklich so. Es hat auch nicht abgenommen. Es ist zum Glück ein Jerusalemer Phänomen, das passiert mir nicht in Haifa oder Tel Aviv, wo ich auch öfter bin, auch nicht in den Jerusalemer Vororten. Dieses Problem kulminiert in Jerusalem im jüdischen Viertel und besonders dort, wo mein Kloster steht, vor den Toren der Altstadt in der Dormitio-Abtei. Es gab schon immer Menschen, die uns abgrundtief hassen. Der 2018 verstorbene israelische Intellektuelle und Friedensaktivist Amos Oz hat diese Leute übrigens einmal jüdische Neonazis genannt, weil sie ganz öffentlich skandieren: „Israel den Juden. Nicht-Juden raus.“ Die gab es schon immer, aber denen hat man immer die Stirn geboten. Ja, das ist eine kleine radikale Minderheit, denen soll man auch nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken. Was neu ist, und das merken wir jetzt auch: Diese Menschen sitzen in der Regierung.

Um das klar zu machen, wir haben hier eine Partei, die rechtsradikal ist. Man kann das gar nicht anders bezeichnen. Man nennt sie Kahanisten, das ist eine Ideologie. Das kennen wir auch aus Deutschland und Österreich mit Parolen wie „Ausländer raus. Deutschland den Deutschen“ oder „Ausländer raus, Österreich den Österreichern.“ So sagen diese Leute: „Israel den Juden, Nichtjuden raus.“ Dieselbe Liga von Menschen, die wir in Europa als Rechtsextreme kennen, sind jetzt in der Regierung. Ich kann gerne ein Beispiel nennen, das für uns Mönche in der Dormitio-Abtei und in Tabgha bedrückend ist. Wir hatten 2015 einen verheerenden Brandanschlag auf unser Kloster in Tabgha am See Gennesaret. Hier haben wir übrigens ein kleines Paradies mit Behindertenarbeit aufgebaut. Zum Glück konnte dieser Fall aufgeklärt werden. Die Brandstifter wurden vor Gericht gestellt. Verteidigt wurden sie von einem Anwalt, Ben-Gvir, der uns auf übelste Weise beleidigt hat, der mehrere Ordnungsrufe bekommen hat, der jetzt Minister für Nationale Sicherheit ist. Das heißt, ich und meine Gemeinschaft müssen ertragen, dass dieser Mann, der übrigens schon mehrere Jahre im Gefängnis saß, jetzt für unsere Sicherheit zuständig sein soll.

Wenn wir schon gemeinsam wegen unseres Christseins angegriffen werden und gemeinsam leiden, haben wir noch das Recht, uns gegenseitig das Abendmahl zu verweigern?

Gibt es Unterschiede im Umgang mit Gläubigen der orthodoxen Kirchen und der katholischen Kirche?

Nein, das ist ein gutes Stichwort zur Ökumene, wo wir nachdenken müssen. Es heißt immer: „Tod den Christen.“ Dieses Jahr können wir sehen, wie ökumenisch wir sind. Es fing mit der Schändung des lutherisch-anglikanischen Friedhofs an, danach wurden armenisch-apostolische Jugendliche angegriffen und ein armenisch-apostolisches Restaurant verwüstet, dann wurde bei den Franziskanern auf der Via Dolorosa eine alte spanische Jesusstatute des gegeißelten Heilands zerstört. Wir sind also in bester Ökumene verbunden. Wenn wir einander treffen, ist der klassische Satz: „Was ist bei euch passiert?“ Da geht es wirklich um Christus. Das ist etwas, was mich sehr stark beschäftigt. Wenn wir schon gemeinsam wegen unseres Christseins angegriffen werden und gemeinsam leiden, haben wir noch das Recht, uns gegenseitig das Abendmahl zu verweigern?

Das heißt, der Grund, warum das jetzt hochkocht, ist die Regierungsbeteiligung der Extremisten?

Ich würde nicht sagen, die Regierung hat Menschen in ihrer Ideologie verändert, sondern die Regierung hat jetzt eine Enthemmungswirkung. Auch in unseren Gesellschaften in Deutschland und Österreich haben wir Rechtsextreme. Nur, wenn die sich unappetitlich äußern, kann man sicher sein, dass es einen Sturm der Entrüstung gibt und dass auch die Politik sagt: „Das wollen wir nicht hören in unserem Land.“ Extremisten, Kahanisten – also, wie Amos Oz sagt, „jüdische Neonazis“ – die gab es schon immer. Nur, wenn da ein Polizist in der Nähe war, ein Uniformierter, da haben sie sich fünfmal überlegt, ob sie ihrem Hass freie Bahn lassen oder ihre Spucke wieder hochziehen und weitergehen.

Das hat sich jetzt wirklich verändert. Da haben wir ein schockierendes Beispiel: Ein israelischer Sender hat gesagt: „Wir hören das immer wieder. Der deutsche Abt beschwert sich immer.“ Und dann haben sie die Franziskaner gefragt, ob ein Journalist verkleidet im Habit durch die Stadt gehen könnte. Und der erste, der ihn angespuckt hat, war ein Soldat in Uniform. Das war ein Schock. Die dachten, das sind Hooligans, aber nein, das sind Uniformierte, die uns anspucken. Das wäre früher undenkbar gewesen, das ist eine Enthemmung. Wenn früher klar war, da steht ein Soldat, dann haben sich alle benommen.

Wir hatten einen Übergriff einer jüdischen Polizistin auf eine Muslima. Sie hat sie zusammengeschlagen, es gab Zeugen und einen Prozess. Kurz darauf wurde sie rehabilitiert von dem Minister, der erklärt hat, sie sei eine Heldin und habe den Staat verteidigt. Solche Aktionen verändern die Atmosphäre.

Israels Staatspräsident Isaac Herzog war gerade in Österreich zu Besuch. Er scheint eine ausgleichende Rolle in der von Extremismus geprägten israelischen Politik spielen zu wollen. Gelingt ihm das?

Da muss ich differenzieren. Es ist die derzeitige Regierung und es gibt eine Opposition im Parlament, die auch entsetzt ist. Isaac Herzog nehme ich aus, der die Problematik offen anspricht. In Haifa gibt es eine Gruppe von Extremisten, eine Splittergruppe, deren Rabbiner unter Anklage steht, mehrfach sexuellen Missbrauch begangen zu haben. Über den man auch in der jüdischen Community entsetzt ist, dass der Mann nicht hinter Gittern sitzt. Dieser Mann hat seinen Anhängern gesagt, in der Kirche der Karmeliten, Stella Maris, liegt der Prophet Elischa, eine Tradition, die niemand kennt. Die ist weder jüdisch noch christlich noch muslimisch. Es ist die Höhle, wo Elia gebetet hat. Sein Schüler Elischa hat damit gar nichts zu tun. Andere Rabbiner haben auch gesagt: „Was soll der Quatsch. Die Tradition ist nirgendwo belegt.“ Dieser Hassrabbiner hat seine Leute aufgestachelt, sie sollen da jetzt reingehen und den Ort erobern. Und da hat Isaac Herzog gesagt: „Nein, ich will, dass wir hier friedlich zusammenleben.“

Ich bin ein Fan vom Staatsprojekt Israel. Es ist der Garant für alle Jüdinnen und Juden weltweit, dass den Enkeln nicht passiert, was den Großeltern passiert ist.

Da muss ich vielleicht einen Schritt in der Geschichte zurückgehen. Ich bin ein Fan vom Staatsprojekt Israel. Es ist der Garant für alle Jüdinnen und Juden weltweit, dass den Enkeln nicht passiert, was den Großeltern passiert ist. Das heißt, wenn es irgendwo unerträglich wird, kann sich jeder Mensch jüdischen Glaubens in ein Flugzeug setzen, nach Israel fliegen und dort angstfrei leben. Das finde ich wunderbar. Aber das Projekt der Unabhängigkeit von 1948 hat immer zwei Gesichter. Einerseits dieser Judenstaat, wie ihn Theodor Herzl skizziert hat, aber auch die Demokratie. Wir wissen hier auch Christen, Muslime, Drusen, Tscherkessen, – das war ja immer auch ein Staat mit großer Diversität. Man hat das Gefühl, dass der zweite Aspekt sehr in den Hintergrund gerückt ist. Isaac Herzog und der Oberste Gerichtshof mit seiner Präsidentin Esther Hayut sind wirklich Verteidiger dieser alten Vision. Und die Regierung, die wir jetzt haben, ist ganz klar eine Gefährdung. Das macht auch viele meiner jüdischen Freundinnen und Freunde traurig.

Bevor ich Abt wurde, war ich Patriarchalvikar im lateinischen Patriarchat für Migranten und Asylsuchende. Da habe ich viele wunderbare jüdische Menschen erlebt. Die haben sich jetzt europäische Pässe besorgt, weil sie Vorfahren in den Ländern hatten, und sagen: „Diese Regierung hat mich heimatlos gemacht.“

Ultraorthodoxe Juden und Jüdinnen leisten keinen Armeedienst, während dieser für alle anderen jungen Männer und Frauen verpflichtend und lang ist – für Männer zweieinhalb, für Frauen zwei Jahre. Wie sehen Sie dieses Konfliktpotential?

Das ist ein sehr spannendes Thema. Man muss ja differenzieren. Die Regierung vereint verschiedene Parteien. Aktuell sind zwei Gruppen zusammengeschweißt, die sich traditionell kritisch beäugen. Das eine sind die radikalen Nationalreligiösen, die mit Maschinengewehr herumlaufen und bevorzugt in der Westbank leben. Die sehen es als ihre Berufung, den Palästinensern ihr Land wegzunehmen, da dieses Land das biblische Land ist, und es gibt kein Palästina. Das sind Nationalisten mit ein wenig religiöser Überzuckerung. Und dann haben wir die klassischen ultraorthodoxen, tief religiösen Parteien, die Shas, die sephardischen Juden, die den orientalischen Juden nahestehen, und die Thorajuden, die askenasischen Juden, die zum Beispiel in Österreich leben. Deren Angehörige müssen nicht zur Armee. Die erkennt man an der schwarz-weißen Kleidung, die erfüllen das optische Klischee eines Juden. Die Nationalreligiösen sehen eher hippie-mäßig aus. Die tragen in der Regel eine helle oder bunte Kippa, haben eine Backpacker-Kluft an, ein alternatives Äußeres. Die gehen sehr gern zur Armee, wenn sie dürfen. Allzu Radikale werden nämlich nicht in der Armee aufgenommen. Aber diese Gruppe will einen militaristischen Staat. Deren Leitsatz ist: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“

So sind die Ultraorthodoxen die Gruppe, die dem Land die Seele geben mit ihrer Lebensweise und ihrem Gebet.

Für die Ultraorthodoxen habe ich ja schon eine Sympathie. Die sind immer die Buhmänner und -frauen, weil sie nicht zur Armee gehen. Mir ist das ja relativ egal als Angehöriger einer Minderheit. Ich fühle mich ja von dieser Armee auch nicht geschützt. Auch wenn ich anerkenne, dass eine funktionierende Armee für ein Land wichtig ist, ich will nicht antimilitaristisch interpretiert werden. Ich habe Verständnis für diese Berufung. Aber die Ultraorthodoxen sagen, dass sie anerkannt werden wollen für ihren Beitrag. Der Staat ist ein jüdischer Staat und wir geben dem Staat den jüdischen Geschmack. Die Leute, die in Tel Aviv Party machen und eine Synagoge einmal im Jahr sehen, sind ja säkular und das Judentum ist nicht spürbar. So sind die Ultraorthodoxen die Gruppe, die dem Land die Seele geben mit ihrer Lebensweise und ihrem Gebet. Die sagen auch, nur Gott kann das Land verteidigen. So haben sie etwas sehr Erfrischendes.

Natürlich können die auch unangenehm werden. Sie bekommen bis zu zehn Kinder, sind nicht im Arbeitsmarkt drinnen, die Männer verbringen den Tag mit dem Thorastudium, viele leben von Transferleistungen. Sie sind eine Herausforderung. Aber ich habe so das Gefühl, man darf gegen eine Gruppe von Juden hetzen, ohne Antisemit zu sein, das ist gesellschaftlich anerkannt. Das Spiel mache ich nicht mit. Diese Menschen haben noch nie einen Stein in mein Kloster geschmissen, die rempeln und spucken mich nicht an.

Die sind seit Jahrhunderten da und haben sich immer schon arrangiert. Wenn sie mich sehen, ist die Haltung: „Du suchst Gott auf deine Weise, ich suche Gott auf meine Weise.“ Wenn ich sie ihre Religion ausüben lasse, sind sie zu mir freundlich. Ich will für die eine Lanze brechen, sie dabei nicht heiligsprechen, aber die sind nicht das Problem in der aktuellen Regierung.

Es ist aufgrund der Vergangenheit schwierig für uns in Österreich, Israel zu kritisieren. Sie versuchen zu differenzieren.

Ich bemühe mich darum. Ich habe auch keine Lust, Ikone für Judenhasser zu sein. Man bekommt Applaus von der falschen Seite, klar. Meine Doktorarbeit beschäftigt sich auch mit einem Thema, wo es um den jüdisch-christlichen Dialog geht. Ich bin auch involviert in den jüdisch-christlichen Dialog. Es gibt einen Antisemitismus, den ich weggelächelt sehe. Mir wird eher schlecht, wenn Europa Debatten über Beschneidung und Schächten führt. Das ist brandgefährlich antisemitisch. Das verunmöglicht jüdisches Leben. Ich habe das Gefühl, da kann man wild drauflos fordern, ohne dass man weiß, was man da sagt – zum Beispiel dass die jüdische Religion ihre Kinder nicht liebt. Um Ernst Rudolf Ehrlich zu zitieren, der einmal zur Entwicklung des Antisemitismus gesagt hat: „Theologische Wüste traf moralische Anspruchslosigkeit.“ Ich würde gerne eine Grundsatzdebatte über Antisemitismus führen, die ich für notwendig halte.

Es gibt Israelis, die es in Israel nicht mehr ertragen und die sich Pässe besorgen. Sie könnten theoretisch vor der Gewalt fliehen. Die über fünf Millionen palästinensischen Menschen im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem können das nicht. Sie verbringen ihr Leben wie in einem abgeriegelten Ghetto. Wie erleben Sie die Situation dieser Menschen?

Selbstverständlich habe ich Kontakte, ich bin Grenzgänger auch im Palästinensergebiet und in Israel bin ich an verschiedenen Orten unterwegs. Einen Augenöffner habe ich durch meine Seelsorge für Arbeitsmigrantinnen und -migranten bekommen. Ich war in Winkeln, wo noch kein Israeli war, in Slums und Sklavensiedlungen. Ich habe einen Eindruck, wie es den Menschen geht.

In Israel haben wir eine in Teilen rechtsradikale Regierung und in Palästina eine korrupte Regierung. Was Hoffnung macht, ist die Zivilgesellschaft.

Im Palästinensergebiet sieht es übrigens nicht besser aus. Palästina hat seit Jahren nicht mehr gewählt, Abbas ist schon lange nicht mehr legitimiert. Man will Demokratie, aber „nur die, die wir wollen“. Wir haben damit eine abgewirtschaftete, gelähmte Regierung. Es gibt eine neue Generation, die ordentlich Widerstand leisten will. Die haben nicht erlebt, was die Alten erzählen: „Nach jeder Intifada ging es uns schlechter.“ Die Jungen fragen: „Warum steht keiner auf?“

Das macht also traurig: In Israel haben wir eine in Teilen rechtsradikale Regierung und in Palästina eine korrupte Regierung. Was Hoffnung macht, ist die Zivilgesellschaft. Wenn man mit Menschen spricht, die eine Vision haben für die Region und für Versöhnung und die nicht hetzen, das sind zum Beispiel viele Rabbiner. Ich habe Einladungen, in den Synagogen zu sprechen. Im Palästinensergebiet gibt es Religionsführer, die sagen, wir müssen der Jugend Bildung geben, um Neugierde und Sensibilität für die anderen zu wecken. Die Religionen sind nicht das Problem, sondern die „religionisierten“ Politiker. Ihre Unfähigkeit kaschieren sie mit „Gott“. Ich finde, dass das Blasphemie ist. Der arme Gott. Setzt euch lieber an den Tisch und einigt euch, wie man Ressourcen verteilt.

Sie sagen, Religionsführer sind auch Hoffnungsträger. Können Sie sich da einbringen?

Der innerchristliche Dialog war ja vor einigen Jahren katastrophal. In Reiseführern stehen die Geschichten, dass sich die Mönche in der Grabeskirche prügeln. Da prügelt sich seit Jahren niemand mehr. Die Ökumene ist ein Traum. Diese Vertrautheit und Kooperation macht Freude unter uns 13 christlichen Konfessionen.

Wir wollen, dass Jerusalem eine offene Stadt ist, in der sich Juden, Christen und Moslems wohlfühlen.

Da sehe ich ein neues Wahrnehmen der Verantwortung, nicht Gräben aufzuwerfen, sondern zusammenzustehen. Das macht mir Hoffnung. Man merkt, dass sich auch Juden dafür interessieren. Gerade als Gruppe, die jahrhundertelange Erfahrung damit hat, wie es ist, verfolgt zu werden, die erdulden musste, dass ihre Friedhöfe geschändet wurden.

Ich habe das Gefühl, da tut sich sehr viel. Wir gläubigen Menschen wollen uns nicht vor den Karren irgendwelcher nationalistischer Politiker spannen lassen.

Muslime äußern sich auch solidarisch. Wir wollen, dass Jerusalem eine offene Stadt ist, in der sich Juden, Christen und Moslems wohlfühlen. Religionsführer sagen, das ist eine dreimal heilige Stadt. Bei den Juden dringt das auch immer mehr in das Bewusstsein ein.

Wie geht es den Menschen in den Palästinensergebieten?

Nicht gut. Es gibt zwei Grundsehnsüchte: Die Israelis wollen Sicherheit, die Palästinenser wollen Freiheit. Sie brauchen für alles Genehmigungen, sie sind kein souveräner Staat. Das macht Gespräche anstrengend. Ich sehe beides. Es gibt wenige, mit denen man da sprechen kann. Das Leben im Palästinensergebiet ist nicht einfach. Man kann sich ja nicht bewegen. Es gibt nicht einmal eine eigene Währung.

Es gab intensive Diskussionen, als Kardinal Marx sein Brustkreuz an der Al-Aksa-Moschee abgelegt hat. Wie kam es jetzt zu der Situation, dass Sie Ihr Brustkreuz im Bereich an der Klagemauer ablegen hätten sollen?

Da muss man stark differenzieren. Ich habe Kardinal Marx und Bischof Bedford-Strohm auch verteidigt. Ein Verneigen vor dem Islam war das nicht. Sie haben nur beim Betreten der Moschee ihr Brustkreuz verdeckt, darüber kann man geteilter Meinung sein, sie haben aber auch an der Westmauer ihre Kreuze nicht gehabt. Tatsächlich gab es da eine Aufforderung von israelischer Seite. Man kann diskutieren, wie betrete ich ein religiöses Gebäude, eine Synagoge, eine Moschee. Ich bin eher liberaler. Wenn jemand eine Kippa aufhat, kann er auch in meine Kirche kommen. Ich respektiere das Äußere und die Kleidung anderer Religionen. Ich habe aber Verständnis, wenn Juden sagen: „Ich möchte nicht, dass jemand an der Westmauer mit einem Kreuz steht.“ Das war aber nicht Thema, sondern der Skandal war: Ich wurde nicht angesprochen auf dem Weg zur Westmauer, um dort zu beten. Sondern ich habe mit der deutschen Bildungs- und Forschungsministerin den Platz davor gekreuzt. Ein Ort, wo Sie Ihre Jause auspacken oder eine Zigarette anmachen können. Da muss man auch keine Kippa tragen.

Ich war also im öffentlichen Bereich und habe keine Anstalten gemacht zu beten. Wenn ich im öffentlichen Raum angepflaumt werde, dass ich so rumlaufe, wie ich immer rumlaufe, dann haben wir eine Verschiebung, die ganz ungut ist. Man muss sich das so vorstellen, wie wenn irgendwelche christlichen Ordner im Schatten des Stephansdoms herumlaufen und sagen: „Benehmen Sie sich mal und nehmen Sie Ihre Kippa ab.“ Da gibt es nichts zu entschuldigen, da habe ich kein Verständnis.

Ein Jude nahm mich in den Arm: „Bleib hier, du bist Teil meines Jerusalem.“

Wenn wir so weitermachen, wird das Altstadtviertel ein No-Go-Areal für Christen. Es wurde als Missverständnis erklärt. Das ist einfach unverschämt. Ich habe keine Anstalten gemacht, an der Westmauer zu beten.

Es gibt auch eine unglaubliche Solidarität! Nach der Geschichte war es eine Achterbahn der Begegnungen: In der Stadt wurde ich angespuckt. Ein Jude nahm mich in den Arm – das kenne ich gar nicht (!) – und er sagte: „Bleib hier, du bist Teil meines Jerusalem.“ Ich würde differenzieren. Die Zivilbevölkerung macht mir Hoffnung.

Autor:
  • Sophie Lauringer
  • Monika Slouk und Stefanie Jeller
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