Chicago: Stadt mit Seele, Stadt mit Narben
Geburtsstadt von Leo XIV.Es war 1951: Vier Jahre bevor der jetzige Papst Leo XIV. geboren wurde, verfasst der Schriftseller Nelson Algren ein Essay über seine Heimatstadt Chicago, das die vielen Gesichter der Stadt geradezu perfekt einfing – und in vielen Aspekten bis heute Gültigkeit hat. Er gab seinem Text den Titel „Chicago – City in the Make“, was frei übersetzt ungefähr so viel bedeutet wie „Chicago – Stadt im Aufbruch“ oder „Stadt im Werden“.
Er beschreibt Chicago darin als Stadt der Gegensätze: Gier, Gewalt, Korruption und Hoffnungslosigkeit stehen menschlicher Würde und Wärme, einem offensichtlichen Überlebenswillen und starkem Charakter gegenüber. Der bekannteste Satz aus dem Essay lautet „Loving Chicago is like loving a woman with a broken nose.” (Chicago zu lieben, ist als ob man eine Frau mit einer gebrochenen Nase liebte). Mit diesem Satz bringt Algren auf den Punkt wie er „seine Stadt“ sieht: ein Ort voller Ecken und Kanten. Schön, nicht immer und nicht überall in einem klassischen Sinn, dafür voller Charakter und bewundernswertem Stolz und Willen.
Gegensätze prägen das Leben
Tatsächlich war das Chicago in das Robert Francis Prevost am 14. September 1955 hineingeboren wurde, eine facettenreiche, vielschichtige Stadt. Und das in jeglicher Hinsicht.
Direkt am Lake Michigan gelegen ist allein das Klima spannend – eisige Winter und extrem heiße Sommer prägen das Leben in der Stadt seit jeher.
Chicago ist eine Stadt voller Kontraste
Doch nicht nur das Klima war immer schon voller Kontraste – auch die Bevölkerung spiegelte schon damals eine enorme Vielfalt. Gerade auch in den 1950er und 1960er Jahren hätte die Bevölkerung der Stadt nicht inhomogener sein können. Neben alteingesessenen Chicagoern hatten im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte zahlreiche Immigranten hier ihr Zuhause gefunden. Die italienischen, irischen und polnischen Einwanderer prägten die Viertel, brachten ihre Musik, ihre Sprache und ihre Alltagskultur mit und bestimmten damit das Gesicht Chicagos. Hinzu kamen zunehmend auch afroamerikanische Familien, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben aus dem Süden der USA in den Norden kamen.
Viele Reibungspunkte
Meist funktionierte das Zusammenleben in Chicago allerdings nicht reibungslos. Die Bevölkerungsgruppen blieben unter sich. Armut und Gewalt prägten viele Viertel. Rassentrennung, wirtschaftliche Ungleichheit und systemische Diskriminierung führten immer wieder zu Spannungen und Unruhen - besonders auch zwischen Weißen und Schwarzen.
Chicago spielte auch in der Bewegung von Martin Luther King Mitte der 1960er Jahre in seiner „Chicago Freedom Movement“ eine Rolle, in der er für gleichberechtigten Zugang zu Wohnraum und besseren Lebensbedingungen für afroamerikanische Familien kämpfte.
Blues, Jazz und beeindruckende Architektur
Geprägt war das Gesicht der Stadt in den 1950er und 1960er Jahren aber auch von Kultur, Musik und Architektur. Vor allem die Zuwanderer aus dem Süden der USA brachten den Blues und den Jazz in die Stadt und entwickelten hier einen ganz eigenen Sound, der über die Grenzen Chicagos bekannt wurde.
Und auch architektonisch tat sich in dieser Zeit einiges in der Stadt am Michigan Lake – entwickelte sie sich doch zu einem Zentrum der Hochhausarchitektur. In den 1950er- und 1960er-Jahren entstanden hier Ikonen der Moderne – etwa die Stahl-Glas-Bauten von Ludwig Mies van der Rohe. Chicago bekam auch durch ihn seine bekannte und weithin bewunderte Skyline.
Herausforderungen werden angenommen
Alles in allem war und ist Chicago eine Stadt, die sich nicht unterkriegen lässt, die Herausforderungen immer wieder mutig zu begegnet und sich auch nicht entmutigen lässt. Und Tatsache ist auch, dass Chicago, positiv formuliert, bis heute ein urbaner Schmelztiegel ist, in dem viele unterschiedliche Sichtweisen aufeinandertreffen und immer wieder neu verhandelt werden müssen.
Chicago hat damit seinen ganz eigenen Charakter entwickelt, der bis heute die Atmosphäre der Stadt prägt und sie auch zu einer der meistbesuchten Städte der USA macht.
Zugehörigkeit ist wichtig
Dass die Chicagoer so sind, wie sie sind, mag bei der Entwicklung dieses „Stadtcharakters“ eine Rolle gespielt haben. Dem „typischen“ Bewohner von Chicago wird nachgesagt bodenständig und ehrlich, arbeitswillig und strebsam zu sein. Gemeinschaft ist den Menschen hier wichtig. Jeder Stadtteil hat seine eigene Identität und oft auch ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit.
„South Side“, jenes Viertel in dem der neue Papst aufgewachsen ist, oder „North Side“ – das war und ist nicht nur Geografie, sondern Zugehörigkeit. Und auch Kirchengemeinden haben und hatten vor allem auch in den 1950er und 1960er Jahren eine große Bedeutung.
Sport schafft Gemeinschaftsgefühl
Aber nicht nur die Zugehörigkeit zu einem Viertel oder einer Kirchengemeinde prägte die Identität der Menschen in Chicago – auch der Sport spielte und spielt bis heute eine zentrale Rolle im Gemeinschaftsgefühl der Stadt. Vor allem Baseball, der amerikanische Nationalsport, ist hier tief verwurzelt.
Mit den Cubs auf der North Side und den White Sox auf der South Side steht sich die Stadt auch sportlich gegenüber. Und bedenkt man, wie wichtig Baseball in den USA ist, ist es kaum verwunderlich, dass sich beide Fanlager in den vergangenen Tagen eine liebevoll geführte Diskussion darüber lieferten, welchem Team sich Papst Leo XIV. wohl zugehörig fühlt. Das gar nicht mehr so große Geheimnis sei hiermit gelüftet: Es sind die White Sox.