Geistesklarheit vor dem Tod
Das Licht der letzten Tage
Terminale (,letzte‘) Geistesklarheit“ klingt schrecklich kompliziert, ist aber ein faszinierender und noch wenig erforschter Bereich im Umfeld des Todes, betont Universitätsprofessor Alexander Batthyany im Gespräch mit dem SONNTAG. Batthyany spricht am 21. Mai bei den „Theologischen Kursen“ in Wien über die Psychologie des Sterbe-Erlebens.
Was geschieht mit dem Bewusstsein kurz vor dem Tod? Was wussten wir bislang, was wissen wir jetzt?
ALEXANDER BATTHYANY: Wahrscheinlich wussten die Menschen früher, als das Sterben noch nicht so konsequent aus den Familien in spezialisierte Institutionen „ausgelagert“ wurde, sogar wesentlich mehr über das Erleben und Miterleben des Sterbens als wir heute. Da herrschte lange Zeit ein Schweigen, ein Wegsehen und das nährte natürlich Unkenntnis und Unverständnis für die Sterbenden und auch Unbehagen gegenüber diesem Gebiet. Erst seit den 1970er-Jahren gibt es wieder Forschungsunternehmungen, sich dem Grenzland von Leben und Tod wissenschaftlich zuzuwenden – und auch Bemühungen, sich ihm klinisch und begleitend, verstehend und helfend anzunähern. Und in diesem Zusammenhang wurde man neben der Nahtoderfahrung auch wieder auf die terminale Geistesklarheit aufmerksam. Sie wurde ja schon früher berichtet und vor allem die viktorianischen Ärzte widmeten sich diesem Thema. Dann folgte eine lange Zäsur, die erst 2009 durch das Erscheinen der ersten wissenschaftlichen Artikel zum Thema ein Ende fand. Das ist daher noch ein junges Forschungsgebiet – wir sind wirklich erst einige Meter vorgedrungen: Gerade genug, um zu ahnen, dass das Sterben und womöglich auch der Tod um ein Vielfaches komplexer, vielfältiger und individueller ist, als man dem ersten Augenschein nach ahnen würde. Eines können wir jedenfalls schon sicher sagen: Sterben ist nicht einfach ein steriles Erlöschen des Lebens. Es geschieht viel mehr und es gibt daher auch viel mehr zu tun in der Begleitung Sterbender.
Wie ist es möglich, dass gerade von Demenz Betroffene oder andere neurologisch schwer Erkrankte gelegentlich in Todesnähe eine spontane Rückkehr kognitiver, also geistiger Klarheit erleben?
Mit dieser Frage befassen wir uns und es laufen auch sonst weltweit derzeit einige groß angelegte Forschungsprojekte dazu. Was unsere Arbeitsgruppe vor allem stutzig werden ließ, ist: Unsere Fallsammlung umfasst eine große Bandbreite an neurologischen Erkrankungen, die in ganz unterschiedlichen Hirnarealen und Systemen Störungen verursachen. Aber dennoch sehen wir über diese vielfältigen Diagnosen hinweg ein relativ gleichförmiges Bild der terminalen Geistesklarheit. Wir haben daraufhin Begleitumstände untersucht, die doch einen gemeinsamen Nenner sichtbar werden lassen – oder gar eine potentielle Ursache. Wir fanden sie nicht. Ähnliches gilt auch für die Nahtoderfahrung: So unterschiedlich die Sterbeursachen, so bemerkenswert gleichförmig sind die Sterbephänomene – und zugleich sind sie ebenso individuell wie jeder einzelne Sterbende bis zuletzt Individuum, Person bleibt.
Wie können Sie die sogenannte „terminale Geistesklarheit“ oder „Geistesklarheit vor dem Tod“ beschreiben? Kehrt sozusagen das Ich wieder, um Abschied zu nehmen?
Menschen mit massiven neurologischen und kognitiven Einschränkungen verlieren oft weite Teile ihrer kognitiven Fähigkeiten, manche von ihnen wissen am Ende nicht einmal mehr ihren Namen. Und doch kommt es immer wieder vor, dass sie in den letzten Stunden oder Tagen vor ihrem Tod für Stunden oder Minuten plötzlich und unerwartet geistige Klarheit wiedererlangen: Sie erkennen vertraute Gesichter, erinnern sich an längst Vergessenes, sprechen Worte des Dankes oder der Versöhnung, verabschieden sich von ihren Angehörigen – als wüssten oder spürten sie, dass ihr Leben bald zu Ende geht. Für einen kurzen Moment scheinen sie „zurückzukehren“, ehe sie – oder wir – Abschied nehmen müssen.
„Sterben ist nicht einfach ein steriles Erlöschen des Lebens.“
Alexander Batthyany
Warum ist die „terminale Geistesklarheit“ relativ, aber nicht äußerst selten?
Schätzungen gehen derzeit davon aus, dass rund sechs bis zehn Prozent der Patienten solche Episoden erleben. Terminale Geistesklarheit ist und bleibt damit ein seltenes Phänomen, und wir Forschenden befinden uns dabei auf einer schwierigen Gratwanderung. Einerseits möchten wir auf diese letzten Momente der Klarheit aufmerksam machen, weil sie Angehörigen und Pflegenden die kostbare Möglichkeit eines letzten Gesprächs schenken können. Andererseits dürfen wir keine falschen Hoffnungen wecken – die meisten demenzkranken Menschen sterben, ohne eine solche Episode zu erleben. Es wäre jedenfalls tragisch, wenn unsere Arbeit nun zu neuen Erwartungen führt, die selbst Sterbende noch unter Druck setzen, sie mögen doch bitte eine luzide Episode haben. Gerade darum geht es nicht. Sterben ist keine Leistung und darf auch keine werden. Worum es uns geht, ist etwas anderes: Dass Menschen – auch schwer kranke – vor allem eines verdienen, nämlich behütet zu werden. Dass wir ihnen beistehen, selbst wenn sie nicht mehr in der Lage sind, uns dafür zu danken. Letztlich macht das ja unser Menschsein aus: unsere Verletzlichkeit – und unsere Fähigkeit, einander dennoch nicht alleinzulassen. Und ganz gelegentlich wird eben auch eine unerwartete luzide Episode sichtbar. Wir können allerdings mangels der Kenntnis der Ursache nicht vorhersagen, bei wem und für wie lange.
Was bedeuten diese Erfahrungen der „terminalen Geistesklarheit“ für die Beziehung zwischen Gehirn und Geist?

Sie sind nur ein Baustein, nur eine Spur unter vielen. Aber interessanterweise erleben wir derzeit auch innerhalb der Philosophie des Geistes ein Umdenken – auch unabhängig von der terminalen Geistesklarheit. Positionen, die noch vor wenigen Jahren als randständig galten, werden zunehmend wieder ernst genommen, schlicht weil sich zeigt: Der klassische Materialismus, so beeindruckend seine Sparsamkeit im Bereich der Seinslehre auch sein mag, erklärt letztlich erstaunlich wenig. Wer alles Geistige auf das Materielle zurückführt, hat das Problem ja nur verschoben und damit noch nicht erklärt, wie nun Materie Geist hervorbringen sollte. Man benennt oder schichtet das Phänomen also lediglich um. Die fundamentale Frage bleibt: Wie kann aus Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff etwas so radikal anderes wie Bewusstsein entstehen? In diese theoretische Sackgasse bricht dann ein Phänomen wie die terminale Geistesklarheit ein: Vielleicht müssen wir tatsächlich neu ansetzen. Von hier aus gibt es eine Reihe alternativer Modelle, die Bewusstsein nicht aus Unbewusstem erklären. Allen diesen Ansätzen liegt ein Verstehen zugrunde, das das Ich nicht als Produkt biologischer Prozesse versteht, sondern als etwas fundamental Eigenes – als ein Jemand, nicht ein Etwas. Unsere Forschungen deuten jedenfalls darauf hin, dass dieses personale Wesen durch Krankheit zwar verdeckt und verborgen sein kann – aber verborgen heißt vorhanden. Oder, um es mit Viktor Frankl zu sagen: „störbar, aber nicht zerstörbar“.
Warum sind die wenig bekannte „terminale Geistesklarheit“ und die bekannteren Nahtoderfahrungen grundlegend verschiedene Phänomene?
Beide unterscheiden sich in Erscheinungsbild und Bestimmung: Bei der terminalen Geistesklarheit kehren massiv beeinträchtigte Menschen für kurze Zeit ins bewusste Leben zurück – sie erinnern sich, nehmen ihre Umgebung wahr, treten wieder in Beziehung. Die Nahtoderfahrung hingegen wird meist als Abkehr von dieser Welt erlebt: Betroffene berichten von Eindrücken und Welten, die ihnen zuvor völlig unbekannt waren – sie treten aus dem Leben heraus, wenn auch nur vorübergehend. Daraus ergeben sich auch methodische Unterschiede: Über die terminale Geistesklarheit berichten Angehörige oder Pflegekräfte – die Betroffenen selbst sind in der Regel bereits verstorben. Nahtoderfahrungen hingegen können nur von jenen geschildert werden, die sie selbst erlebt und überlebt haben. Sie sind die einzigen direkten Zeugen ihres Erlebens – Dritte können das meist nicht bestätigen, obwohl es auch da (seltene) Ausnahmen gibt. Dennoch scheint mir, dass beide Phänomene miteinander verbunden sind – alleine schon, weil sie mit komplexem bewussten Erleben zu einem Zeitpunkt einhergehen, an dem die organischen Grundlagen dafür nach gegenwärtigem Verständnis eigentlich nicht gegeben sind.
„Wie kann aus Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff etwas wie Bewusstsein entstehen?“
Alexander Batthyany
Warum ist – teilweise auch innerkirchlich – kaum mehr die Rede von der Existenz der Seele?
Für unsere Forschung haben wir mit mehreren hundert Menschen gesprochen, die Zeugen ungewöhnlicher Ereignisse in Todesnähe wurden und sich nach einem Ort sehnten, an dem sie verstanden werden. Das ist eine gewaltige seelsorgerliche Aufgabe und Verantwortung. Zudem gibt es ein großes alternatives Angebot, von dem ich nicht sicher bin, ob es immer hilfreich ist – ich denke da insbesondere an die populäre Esoterik, die oft sehr undifferenziert und übermäßig vereinfachend an das Thema herangeht. Ausserdem endet die eigentliche Frage nach dem Menschen ja nicht bei der Frage nach dem Ich und seiner Natur. Eher fängt sie da erst an und führt doch viel weiter. Das Christentum etwa ist wesentlich ein Blick darauf, dass das Ich grundlegend auf eine konkrete und wirkliche Begegnung und Beziehung ausgerichtet ist: Zum Ich gehört ein Gegenüber. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass Menschen, die im Umfeld des Sterbens Ungewöhnliches erleben, oft von sich aus sagen, dass es eine Form von Wahrheit gibt, die letzten Endes gar nicht verstanden werden will, sondern vor allem: erlebt. Das sind eigentlich sehr alte Inhalte, gekleidet in die Sprache der Gegenwart. Hier gibt es auch eine hohe Anschlussfähigkeit zwischen wissenschaftlicher Sterbeforschung und der Tradition der Kirche. Sie hütet ja einen enormen Schatz an Einsichten zum Beispiel der christlichen Mystiker, die womöglich auch die zeitgenössische Forschung auf neue Spuren ansetzen könnten.
Termintipp
Universitätsprofessor Alexander Batthyany spricht am 21. Mai bei den „Theologischen Kursen“ von 18:00 bis 19:30 Uhr zum Thema „Das Licht der letzten Tage. Terminale Geistesklarheit und verwandte Nahtodphänomene“. Infos unter: Theologische Kurse
Was sagt uns diese unerwartete Rückkehr des Ichs im Sterbevorgang über unser Wesen und unseren Tod?
Das Forschungsfeld ist noch sehr jung, und ich rechne nicht damit, dass wir in naher Zukunft belastbare oder gar abschließende Antworten auf die vielen offenen Fragen finden werden. Vieles davon reicht ja auch unweigerlich tief in die Metaphysik und die letzten Fragen hinein, die der Wissenschaft schon rein methodisch verschlossen sind. Und doch lässt sich zumindest eines festhalten: Die beobachteten Phänomene stellen den klassischen Materialismus grundlegend infrage. Denn dieser knüpft das Personsein eng an die ungestörte Funktion des Gehirns – ein Zusammenhang, der in Todesnähe allem Anschein nach brüchig wird. Vielmehr zeigt sich in unserer Arbeit, dass Bewusstsein oder personale Erfahrung unter bestimmten Umständen auch dort aufscheinen kann, wo die neurologischen Voraussetzungen sie längst nicht mehr tragen. Das hat natürlich gewaltige Implikationen.