200. Geburtstag von Fjodor Dostojewski
Er schaute in die AbgründeStephan Lipke ist Jesuit und lebt seit zehn Jahren in Russland, wo er zunächst im sibirischen Tomsk in einer Schule und einer Pfarre arbeitete. „Seit vier Jahren bin ich in Moskau und lehre Philosophie und Latein am St.-Thomas-Institut“, erzählt er im Interview mit dem SONNTAG. 2017 verfasste Pater Stephan Lipke seine Dissertation in russischer Literatur über das Menschenbild Anton Tschechows. „Hier in Moskau mache ich neben Lehre und Forschung auch Migrantenseelsorge, v. a. in einer Gemeinde mit vielen ,Gastarbeitery‘ – wie man auf Russisch sagt – von den Philippinen“, gibt der Jesuit Einblick.
Übersetzungen von Swetlana Geier
Der Ordensmann kommt trotz seiner vielen seelsorglichen Engagements immer wieder auf die russische Literatur des 19. Jahrhunderts zurück, deren Untiefen er zu ergründen sucht. Stephan Lipke forschte in den letzten Jahren im Rahmen eines Projekts zu Fjodor Dostojewskis geopolitischen Ansichten. „Natürlich war Dostojewski konservativ – um es milde auszudrücken –, zugleich aber auch revolutionär. Er schaute in Abgründe der menschlichen Seele, die wir lieber nicht sehen möchten, er beschrieb das Leid der Armen oder die Gewalt gegen Frauen eindringlich wie nur wenige andere.“
Wenn man verstehen möchte, wer Dostojewski gewesen sei, eigneten sich seiner Meinung nach am besten die Übersetzungen von Swetlana Geier: „Die sind frech und unverbraucht.“ Für Dostojewski-Einsteiger empfiehlt Stephan Lipke den „Traum eines lächerlichen Menschen“ oder die „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“. „Beide zeigen, was Dostojewski wichtig war, als er mit 33 Jahren aus dem Gefängnis freikam: Schuld und Vergebung.“
Erfahrung der Gebrochenheit
Überhaupt könne man Dostojewski nur mit der Erfahrung der Gebrochenheit verstehen, betont der Jesuit: „Wenn ich nach St. Petersburg komme, gehe ich immer wieder auf den Semjonowski-Platz. Dort sollte Dostojewski zusammen mit einer Gruppe von ,Mitverschwörern‘ im Dezember 1849, kurz nach seinem 28. Geburtstag hingerichtet werden. Ihr Verbrechen? Sie hatten subversive Literatur gelesen.“ Die ersten drei Männer bekamen die Augen verbunden und wurden an Säulen zum Erschießen gestellt, Dostojewski war in der zweiten Gruppe. „Da kam plötzlich ein Eilbote vom Kaiser und verlas, dass die Verurteilten zu Haftstrafen begnadigt sind – dieses Schreiben hatte Nikolaus I. schon lange vorher unterzeichnet. So kam Dostojewski für fünf Jahre in Haft nach Omsk und für weitere fünf Jahre in die Verbannung in Sibirien und im heutigen Kasachstan.
Welche Schönheit rettet die Welt?
Diese Erlebnisse hätten den Schriftsteller für immer geprägt. Davon zeuge besonders der Roman „Der Idiot“, auf den Stephan Lipke persönlich immer wieder zurückkommt: „Die große Frage in diesem Roman ist: Welche Schönheit rettet die Welt? Die Welt des naiven Fürsten Myschkin, der an Epilepsie leidet, wie Dostojewski selbst, aber dieses Leiden nicht missen möchte, weil er vor jedem Anfall eine ungeahnte Fülle von ,Schönheit und Gebet‘ erlebt; die Welt des jungen, sterbenskranken Hippolit; die Welt von Nastasja Filippowna, die als Jugendliche sexuelle Gewalt erfahren hat.“
Ein heftiger Feind des Katholizismus
Aber auch in vielen anderen Werken würden Glaube und Freiheit, Sünde und Gewalt eine Schlüsselrolle spielen, z. B. in „Verbrechen und Strafe“ (früher „Schuld und Sühne“), „Böse Geister“ („Die Dämonen“) oder „Die Brüder Karamasow“. „Deshalb ist wohl jedes Werk Dostojewskis mit seiner Mischung aus Lachen und Ernst bis heute aktuell, nicht zuletzt die Werke, die er vor der Verhaftung geschrieben hat wie die geradezu kafkaeske Erzählung ,Der Doppelgänger‘, in der die Hauptfigur von ihrem eigenen Doppelgänger aus Beruf und Gesellschaft verdrängt wird.“
Lipke fasst zusammen: „Dostojewski gehört zusammen mit Nietzsche zu den wenigen Denkern des 19. Jahrhunderts, an denen man nicht vorbeikommt. Sicher war er ein heftiger Feind des Katholizismus, aber die Fragen, die er aufwirft, sind allemal berechtigt, besonders die Frage, wem wir uns anvertrauen: der Macht eines Menschen – und sei es der des Papstes – oder dem gekreuzigten und auferstandenen Christus.“