Wie lässt sich Arbeitslosigkeit überwinden?

Zum Tag der Arbeit am 1. Mai
Ausgabe Nr. 17
  • Soziales
Autor:
Systemrelevant: In Pandemiezeiten wurde die Arbeit der Pflegekräfte beklatscht. ©alvarez

Markus Schlagnitweit spricht über die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf Gesellschaft und Individuum.

Ob er gern arbeite, will der SONNTAG von Markus Schlagnitweit, dem Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs, wissen. „Ja, ich arbeite gern“, betont Schlagnitweit und zählt auf: „Weil mir meine Arbeit Sinnstiftung gibt, weil sie mich mit anderen Menschen in Verbindung bringt und weil ich hier auch meine persönlichen Begabungen und Fähigkeiten in vielfältiger Weise zur Entfaltung bringen kann. Arbeit fordert mich einfach positiv heraus.“

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Sie haben Arbeit und arbeiten gern, andererseits wird am 30. April der sogenannte „Tag der Arbeitslosen“ begangen. Bedeutet Arbeitslosigkeit nicht oft zugleich auch Armut?

MARKUS SCHLAGNITWEIT: In aller Regel schon. Abgesehen von Übergangsarbeitslosigkeit bei einem Arbeitsplatzwechsel zwischen zwei Arbeitgebern. Wenn dies nur eine relativ kurze Zeit ist, dann ist das nicht unbedingt sofort gleichbedeutend mit Armut. Wir haben allerdings in Österreich tatsächlich die Situation, dass bei vielen Arbeitslosen, wenn die Arbeitslosigkeit dann doch einen längeren Zeitraum umfasst, das Einkommen schlagartig herabsinkt. Fast auf die Hälfte – und dass kann viele Menschen in schwierige, prekäre Lebenssituationen bringen. Es geht aber nicht nur um das Problem der finanziellen oder einkommensseitigen Einbußen, sondern Arbeitslosigkeit ist zusätzlich auch oft mit sozialer Stigmatisierung verbunden. Was bei Betroffenen oft auch zum Rückzug aus der Öffentlichkeit führt, zur Isolation.

Wie kommen diese Menschen aus dem Teufelskreis der anhaltenden Langzeitarbeitslosigkeit heraus?

Zum Aspekt der finanziellen Verarmung kommt hinzu, dass Langzeitarbeitslosigkeit meistens auch Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen hat. Langzeitarbeitslose verlernen gleichsam, ihre Tagesstruktur zu behalten und mit einer gewissen Regelmäßigkeit ihren Tag zu gestalten. Da braucht es dann oft entsprechende sozialarbeiterische Begleitung, um sie wieder dazu zu befähigen, eine klare Tagesstruktur aufzubauen. Aber es braucht natürlich auch sozialpolitische und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Ein sehr interessantes und auf drei Jahre befristetes Experiment in Gramatneusiedl-Marienthal in Niederösterreich wurde allerdings jetzt beendet.

„Langzeitarbeitslosigkeit  hat auch Auswirkungen auf die Psyche.“


Markus Schlagnitweit

Können Sie dieses Modell konkreter erläutern?

Unter dem Namen „Jobgarantie“ bekamen im Marienthal langzeitarbeitslose Menschen auf freiwilliger Basis einen garantierten Job angeboten. Diese Menschen wurden entweder in Betriebe der Region aufgenommen oder es wurden über sozialökonomische Unternehmen geeignete Arbeitsplätze für sie geschaffen und ihnen angeboten. Es hat sich gezeigt, dass dieses Experiment geholfen hat, dass Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit herauskommen konnten und sich wieder an regelmäßige Erwerbsarbeit gewöhnt haben und damit auch aus der Armut herausgekommen sind. Dieses Experiment hat nicht mehr gekostet, als wenn die Betroffenen weiterhin ihre Sozialleistungen bezogen hätten. Bei der Präsentation des jüngsten Sozialberichts des Sozialministeriums, der erst vor wenigen Tagen erschienen ist, wies eine Wissenschaftlerin darauf hin, dass derartige „Jobgarantie-Modelle“ geeignet wären, Langzeitarbeitslosigkeit in Österreich wirksam zu bekämpfen.

Jetzt tauchte auch der Vorschlag auf, die Ladenschlusszeiten auszuweiten. Was halten Sie davon?

Ich halte nicht viel davon. Wir haben ohnedies schon eine Ausweitung der Ladenöffnungszeiten auf 19:30 oder 20:00 Uhr. Ob diese Geschäfte dann wirklich bis in die Nachtstunden, bis 23:00 Uhr, offenhalten sollen? Es erscheint mir ähnlich zu sein wie bei der Sonntagsöffnung. Man kann sich die Zeit zum Einkaufen an sich einteilen. Es geht ja nicht nur um die Interessen der Kundinnen und Kunden, sondern wir haben dann auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die regelmäßig bis 23:00 Uhr arbeiten müssten. Dies würde dann die gesellschaftlichen Zeitrhythmen noch mehr in Auflösung bringen, die aber, so glaube ich, eine Gesellschaft einfach braucht. Es braucht gemeinsame Freizeiten, damit sich beispielsweise das gesellschaftliche Leben auch außerhalb der Arbeit entfalten kann. Da denke ich nicht nur an die Familien, sondern an Vereine und den ganzen Bereich des Ehrenamts, wo sich Menschen oft am Abend noch engagieren. Wenn dann eine oder einer sagen muss, ich kann nicht kommen, weil sie oder er um 20 Uhr einkauft oder noch arbeiten muss, dann beeinträchtigt das andere wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Es wird deshalb auch nicht mehr eingekauft, im Gegenteil: Gerade der Präsenzhandel leidet ohnehin schon sehr stark unter dem virtuellen Geschäft. Die Digitalisierung ist auch im Handel voll eingezogen. Also wozu hier auch noch die Ladenöffnungszeiten ausweiten? Ich sehe schlichtweg kein Argument dafür. 

Ein wichtiger Aspekt von Arbeit ist die sogenannte Care-Arbeit, also Sorge-Arbeit, meist von Frauen geleistet. Sind nicht diese Frauen die echten Leistungsträgerinnen?

Ja, zweifellos. Die vergangene Pandemie hat ja gezeigt, welche Berufe wirklich gesellschaftlich systemrelevant sind, als bei den Lockdowns vieles aufrechterhalten werden musste. Da hat man plötzlich eine ganz andere Wahrnehmung für diese Berufe bekommen, die sich aber bis jetzt in den meisten Fällen nicht in der Bezahlung der Betroffenen niederschlägt. Man hat die Pflegekräfte in den Spitälern und in den Alten- wie auch Pflegeheimen beklatscht, aber an ihrer finanziellen Situation hat sich wenig geändert. Während andere, oft hoch bezahlte Jobs locker von zu Hause aus oder auch am Computer erledigt werden konnten. Ich halte überhaupt den Leistungsträgerbegriff, so wie er in der Politik oft gebraucht wird, für hochproblematisch. Sehr häufig werden nämlich als Leistungsträger jene verstanden, die besonders viel Steuern zahlen, weil sie über hohe Einkommen verfügen. Das ist aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit der echten Arbeitsleistung, die dabei erbracht wird. Denn es gibt auch sehr viele Menschen, die arbeiten Vollzeit und haben trotzdem nur einen Lohn, der knapp an der Armutsgrenze ist oder sogar darunter liegt. Wir haben das Phänomen der „Working Poor“, der arbeitenden Armen, ja auch in Österreich, die vielleicht sogar im Bereich systemrelevanter Berufe tätig sind, aber eben schlecht entlohnt werden. Und ich frage mich: Sind das nicht die eigentlichen Leistungsträger? Ich würde daher den Leistungsträgerbegriff nicht nur ökonomisch definieren, also fragen: Welche Wertschöpfung erzielt eine Arbeit? Sondern: Was gibt ein Mensch für das Gemeinsame, für das Zusammenleben, für das Gemeinwohl?

Ist die Digitalisierung die neue soziale Frage des 21. Jahrhunderts, nach der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der Dienstleistung im 20. Jahrhundert?

Sie ist zumindest eine wichtige soziale Frage im 21. Jahrhundert. Es gibt noch andere große soziale Herausforderungen, beispielsweise die ganze Frage der Migration, der gesellschaftlichen Integration von Migrantinnen und Migranten. Und genauso gehört auch die ökologische Frage dazu, die sozial zu lösen ist. Wir brauchen daher eine sozial-ökologische Umgestaltung. Die wird nur funktionieren, wenn es auch hier gelingt, alle Gesellschaftsgruppen mitzunehmen. Armutsbetroffene brauchen hier auch entsprechende Unterstützung, weil sie weniger Gestaltungsspielraum für ihr Leben haben. Dass die ökologische Frage auch eine soziale Frage ist, betont Papst Franziskus in seinen Äußerungen immer wieder, gerade auch in der Enzyklika „Laudato si‘“.

„Die ökologische Frage ist auch eine soziale Frage, wie Papst Franziskus sagt.“


Markus Schlagnitweit

Welche Antworten hat die katholische Soziallehre auf atypische Beschäftigungen wie Leiharbeit oder prekäre Arbeit?

Schon von Anfang an hat die Soziallehre der Kirche immer gesagt: Wer arbeitet, hat ein Recht auf einen angemessenen Lohn, von dem er oder sie leben kann und auch die Familie oder sonstige Angehörige, für die er oder sie zu sorgen hat. Das war von Anfang an das Erfordernis der Lohngerechtigkeit. Papst Franziskus macht auf dieses Problem immer wieder aufmerksam. Wahrscheinlich auch vor dem Hintergrund seiner lateinamerikanischen Herkunft, weil er aus einer Gesellschaft kommt, in der es noch viel mehr Menschen gibt, die in atypischen oder prekären Arbeitssituationen tätig sind. Auch die jüngste römische Erklärung „Dignitas infinita“ („Die unendliche Würde“) nennt konkrete Themenfelder, wo Menschenrechte sozusagen in Gefahr sind. Das Schreiben setzt nicht bei den bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechten an, sondern bei den sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten und nennt hier Armut oder Migration als Felder, wo die Menschenwürde gefährdet ist. Franziskus hat mehrmals gemeint, dass alle Menschen, gerade die in prekären Beschäftigungsverhältnissen, über so etwas wie ein Grundeinkommen verfügen müssten, das sie davor bewahrt, in Situationen, wo sie eben nicht erwerbsfähig sind, etwa Krankheit oder Arbeitslosigkeit, in Armut zu geraten.

Schlagwörter
Autor:
  • Stefan Kronthaler
  • Stefan Hauser
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